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Portrait

«Du bisch u blibsch e Löu»

Manfred Liechti wird im Herbst im Spielfilm zum Fall Kneubühl des Bieler Regisseurs Laurent Wyss in der Hauptrolle zu sehen sein. Es ist nicht der erste gebrochene Charakter, den der Berner verkörpert.

Manfred Liechti hatte eine Kindheit «voller rabenschwarzer Momente». Bild: Adrian Moser

Regula Fuchs

Er hat so viele kantige Typen gespielt, man ist beim Treffen fast ein wenig überrascht, wie freundlich und sanft Manfred Liechti ist. Der Berner, 64, grauer Haarkranz, geblümtes Hemd, hatte schon zahlreiche, vor allem kleinere Rollen in Film und Fernsehen. Liechti war in den Serien «Wilder» und «Gotthard» zu sehen, er war 2002 mit «Im Namen der Gerechtigkeit» für den Schweizer Filmpreis nominiert und brachte 2006 in «Die Herbstzeitlosen» als Dorfkönig die Nation zum Schmunzeln.

2022 wird Manfred Liechti in einer weiteren markanten Rolle auftreten: Er spielt im Film «Peter K.» den als «Amok-Rentner» betitelten Peter Hans Kneubühl, der sich 2010 gegen die Zwangsräumung seines Hauses wehrte und dabei einen Polizisten schwer verletzte (das BT berichtete). Der Spielfilm ist zwar schon länger fertig, wird aber erst im nächsten Herbst in die Kinos kommen. Der Bieler Regisseur Laurent Wyss erzählt darin die Geschichte Kneubühls ganz aus dessen Perspektive – das Publikum solle Kneubühls «verengte Sichtweise» miterleben, schreibt Wyss, und «wie seine Welt zusammenbricht».

Weil sich die Finanzierung harzig gestaltete, sah man sich gezwungen, unter Low-Budget-Bedingungen zu drehen. Trotzdem war die Recherche ausgiebig – der Regisseur traf sich mehrmals mit Kneubühl. Und auch Liechti besuchte den 77-Jährigen, der seit 2013 im Regionalgefängnis Thun verwahrt wird, weil er sich gegen eine psychiatrische Massnahme wehrt.

Er habe im Vorfeld Bedenken gehabt, erzählt Liechti. «Aus den Tagebüchern und Briefen wusste ich, dass sich Kneubühl verfolgt fühlte. Und obwohl er sein Einverständnis für den Film gegeben hatte, fürchtete ich, dass er mich auch als Feind sehen könnte.»

Doch es kam anders. Die Begegnung fand in einer Besuchskoje des Gefängnisses statt – «nur einen Meter breit, mit Aquariumscheiben» –, und Kneubühl erwies sich als überaus freundlicher älterer Herr. «Hätte ich nicht gewusst, dass mit ihm angeblich etwas nicht stimmt», so Liechti, «ich hätte nichts gemerkt.» Über Kneubühls Tat sprachen die beiden Männer so gut wie gar nicht. Sondern sie tauschten Kindheitserinnerungen aus – «er sagte mir etwa, dass er im Wald immer besonders glücklich gewesen sei».

 

Grobiane und Sturköpfe

Aus dieser Begegnung nahm Liechti vor allem eines mit: dass er Kneubühl so normal wie möglich darstellen wollte. Als Menschen, der zwar psychische Probleme hatte, sich aber nicht ohne Grund von der Polizei in die Enge getrieben fühlte. «Der Film soll Verständnis wecken und fragen, ob es für die Behörden nicht andere Möglichkeiten gegeben hätte, diesem Mann zu begegnen», sagt Liechti. Allerdings: «Eine Entschuldigung soll es natürlich nicht sein. Er hat einen unglaublich krassen Fehler gemacht.»

Kneubühl ist nicht der einzige gebrochene Charakter in Liechtis Filmografie. Dass der Berner oft für Grobiane, Sturköpfe oder Polterer gecastet wird, verwundert nicht – er hat die Voraussetzungen dafür in Stimme und Gesicht. Dass Liechti aber überhaupt Schauspieler wurde, ist angesichts seiner Biografie ganz und gar nicht selbstverständlich.

In die Wiege gelegt wurde ihm die Kunst nämlich keineswegs – auch wenn er seine erste Rolle bereits in zartem Alter spielte. In der Kinderkrippe Bümpliz gab er im Krippenspiel den Josef. Aber nur, weil er den ursprünglich für die Rolle vorgesehenen Buben drangsalierte, bis dieser nicht mehr wollte. «In meiner Kindheit galt das Faustrecht. Und auch ich habe leider viel zu oft davon Gebrauch gemacht», erzählt Liechti.

Seine ersten Jahre waren, gelinde gesagt, schwierig. «Armengenössig» seien er und seine vier Geschwister aufgewachsen. Die Mutter musste arbeiten, gab die Kleinen frühmorgens in der Krippe ab und ging dann zu Fuss zum Inselspital, weil das Geld weder für den Bus noch für ein Velo reichte. Der Vater? Psychisch angeschlagen und überfordert – und meist nur dann präsent, wenn es etwas zu poltern gab.

Auch die Schulzeit war hart. Liechti schüttelt sich, wenn er schildert, wie die Kinder von den Lehrern geschlagen wurden. «Als ich etwas auf die Wandtafel schreiben sollte, zerbrach mir eine Kreide», erzählt er. «Noch bevor das abgebrochene Stück am Boden war, schmierte mir die Lehrerin eine, mein Kopf schlug an die Tafel, das Blut lief, und sie sagte: ‹Du bisch u blibsch e Löu.›»

Es gab aber auch Lehrer, die ihn förderten, «mein grosses Glück», sagt Liechti. Und als Jüngling fand er trotz der langen Haare, der knallengen Hosen und der Uriah-Heep-Stiefel eine Lehrstelle als Elektromonteur. An die Kunst oder ans Theater dachte damals in seinem Umfeld niemand.

Durch eine Bekannte, die bei der Neuen Volksbühne Bern mittat, rutschte Liechti zufällig in die Laientheaterszene. Sein Rollendebüt war der erste Hofnarr in einem Märchen für Erwachsene. Mit weiss geschminktem Gesicht à la Mephisto, einem Rüschenhemd, pistaziengrünen Balletthosen und wildem Haar sorgte er für Aufsehen. So sehr, dass Peter Schneider, der Leiter des Theaters 1230, auf ihn aufmerksam wurde und ihn schliesslich in die semiprofessionelle Truppe holte.

Wenn Liechti ins Erzählen kommt, entsteht ein lebendiges Bild von jener grossen Zeit der Berner Kellertheater und freien Gruppen. Es sei damals, in den 80er-Jahren, aber auch Finsteres vorgefallen, sagt Liechti. Will heissen: viel Drama, grosse Egos, sektenähnliche Strukturen, Übergriffe, Drogenabstürze oder Gezänk um Subventionen.

Trotzdem: «Durch das Theaterspielen erfuhr ich, wie das Leben auch sein kann.» Eine Zeit lang arbeitete Liechti halbtags noch als «Stromer», irgendwann setzte er ganz aufs Theater. Bis heute hat er sich sein zweites Standbein jedoch erhalten: «Wenn es eng wird, kann ich immer noch installieren.» Das habe sich auch jetzt, in der Pandemie, bewährt.

 

«Absolut fantastisch»

Mit dem Theater 1230 landete Liechti ein paar Grosserfolge 
wie «Beizengeschichten» oder «Bauernspiegel». Trotzdem war nach einigen Jahren Schluss: Die Persönlichkeiten der Beteiligten erwiesen sich als nicht kompatibel. Es folgten diverse Engagements an festen Häusern und bei freien Gruppen, und mehr und mehr wurde der Autodidakt auch für Filmrollen gecastet. Bis dann die Anfrage für Bettina Oberlis «Die Herbstzeitlosen» kam – und damit der ganz grosse Publikumshit. Liechti schwärmt heute noch von den Dreharbeiten, «absolut fantastisch» sei das gewesen: «Eine wunderbare Geschichte, eine wunderbare Regie, wunderbare Schauspielkolleginnen – ich war der Hahn im Korb.»

Nicht von allen seinen Filmen ist Liechti so begeistert, öfters seien es auch blosse Brotjobs gewesen – «in sehr vielen Produktionen geht es leider nur um die Einschaltquote. Dabei, und das sage ich vor dem Hintergrund meiner eigenen Biografie, hätten wir doch Gewichtigeres zu erzählen.»

Zum Beispiel die Geschichte von Peter Hans Kneubühl. «Auch ich hätte leicht abgleiten können – in die Sucht, die Psychiatrie oder die Kriminalität», sagt Liechti. Er habe es vor allem seiner Mutter zu verdanken und jenen, die ihm im rechten Moment eine Chance gegeben hätten, dass er eine so grosse Widerstandskraft entwickelt habe. Nicht verwunderlich, dass er auch als Schauspieler immer wieder von seinen persönlichen Erfahrungen zehrt. «Durch die rabenschwarzen Momente in meiner Kindheit konnte ich eine ganz andere Sensibilität entwickeln, als wenn ich gut behütet aufgewachsen wäre.»

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