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Literatur

Ein hypnotischer Totentanz

Düster, beklemmend, verstörend - Heinz Helles zweiter Roman «Eigentlich müssten wir tanzen» erzählt vom Ende der Gesellschaft, des Menschen und der Sprache.

Eine kalte, brennende Welt: In Heinz Helles neuem Roman kämpft die Menschheit um das nackte Überleben. symbolbild: keystone

von Nicolas Bollinger

Irgendwann im Winter. Eine Gruppe junger Männer verbringt ein Wochenende in einer abgelegenen Berghütte. Als sie ins Tal zurückkehren, existiert die Welt, die sie kannten nicht mehr. Die Dörfer und Städte brennen oder liegen bereits in Trümmern, die Orte sind verwüstet, geplündert, verlassen, und überall liegen Leichen. Nunmehr geht es einzig um das Überleben.

Das Ende der Zivilisation. Es ist gewiss kein neues Szenario, das Heinz Helle in seinem zweiten Roman «Eigentlich müssten wir tanzen» aufgreift. Gerade jetzt, wo sich Diagnosen des Zeitgeistes nur allzu oft im Topos der Krise und des bevorstehenden Untergangs erschöpfen, könnte man dem Autor leicht vorwerfen, einem simplen Trend zu folgen. Doch Helle, der Philosoph, hat anderes im Sinn.

Was wäre wohl der Fall, wenn die Dinge anders lägen als sie es tatsächlich tun? Welchen Bestand haben moralische Werte, wenn das soziale Regelkorsett, das sie zusammenhält, urplötzlich verschwindet? Was bedeutet es, ein Mensch zu sein, wenn nur noch die Selbsterhaltung wichtig ist? Es sind Fragen dieser Art, die Helle in Form eines philosophischen Gedankenexperiments durchspielt - und dies nicht in Gestalt eines existenziellen Dramas, sondern als gefühlskalt arrangierte wissenschaftliche Versuchsanordnung, erbarmungslos bis zum Schluss.

War Helles Debüt «Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin» ein assoziativer Reisebericht in das Bewusstsein eines ruhelosen Denkers, so präsentiert sich das Nachfolgewerk deutlich greifbarer - aber nicht minder radikal.

Irritierende Bilder

In der kalten, brennenden Welt, in welche Helle den Leser hineinwirft, ist der Mensch bereits verschwunden. Sowohl physisch, als auch seelisch, die entvölkerten Ruinen und das Grauen, das sich darin abspielt, sind im wahrsten Sinne un-menschlich. Die Protagonisten - Drygalski, Gruber, Fürst, Golde und der namenlose Erzähler - wirken zu keinem Zeitpunkt wie Personen mit individuellen Unterscheidungsmerkmalen, es sind nurmehr Körper mit Namen, Körper, die fortbestehen wollen. Und dazu ist jedes Mittel recht. Mord, Raub und Vergewaltigung geschehen mit derselben Selbstverständlichkeit wie das Atmen und Schlafen. «Wir sind nur noch zu gross geratene Bakterien», stellt der Erzähler nüchtern fest.

Mit derselben Nüchternheit breitet Helle ein wahres Panoptikum des Grauens aus, in einer Sprache, die in verstörend brutaler Schlichtheit zu einer Poesie des Schrecklichen wird. Sätze und Bilder wie ein Schlag in die Magengrube, Bilder, die sich einbrennen, die einsickern in das Bewusstsein, sich dort festsetzen und weiter wirken. Da ist dieser verlassene Stall, in dem die Kühe immer noch an der Melkmaschine hängen und die Maschine saugt und saugt, wie es Melkmaschinen eben tun, «obwohl aus den Kühen schon lange nichts mehr kommt, sie sind leer unter dem Fell bis auf die Knochen.» Oder dieses Kind, das die Schädel seiner Eltern zertrümmert hat oder Hunderte verkohlte Körper in einer ausgebrannten Diskothek.

Gefühlskälte als Prinzip

Wie das Unfassbare in Worte fassen? Helle bedient sich dazu einer Sprache, die keine Gefühle mehr ausdrücken, vermitteln, transportieren kann, da sie ihren Ursprung in einer Welt hat, in der jegliches Gefühl längst abgestorben ist. Das erinnert unweigerlich an Kafka, an Houellebecq. Gefühlskälte ist hier Sprachkälte, ist die Kälte des nicht enden wollenden Winters, die Kälte der Welt.

«Eigentlich müssten wir tanzen» folgt keinem kohärenten Erzählstrang. Vielmehr besteht der Roman aus 69 lose zusammenhängenden Bildern. Doch da ist diese rhythmisch-treibende Kraft im Text, die den Plot als auch den Lesefluss unermüdlich antreibt. Auch wenn die Protagonisten kaum mehr empfinden, so sind sie noch Körper, die in Bewegung bleiben wollen, die sich nur noch erhalten wollen. Gerade weil Helle dies betont distanziert schildert, gewinnt es eine Intensität, die in ihrer Wirkung fast hypnotisch wird, ein nicht enden wollender, fiebriger Traum. Steigen, Waten, Schlurfen, Stapfen, Kriechen, der Schnee unter den Füssen, der Asphalt, der Morast, der Waldboden unter den Sohlen - es ist eine Phänomenologie der Fortbewegung, die der Autor entfaltet.

Faszinierender Sog

Wer nun aber glaubt, dass diese Bewegung auf ein finales Ziel hinausläuft, auf eine philosophische Pointe, die der Apokalypse wenigsten einen Sinn abgewinnt, der wird enttäuscht. In dieser Wüste des Realen gibt es weder Erklärungen noch tiefere Einsichten. Nicht weiter schlimm.

Dazu ist die Sogwirkung von Helles Prosa einfach zu stark - und zu faszinierend. Eine schwindende Sprache, die ihre zunehmende Wortlosigkeit zu fassen versucht. Sie protokolliert ihr eigenes Verschwinden, ein letztes Aufbäumen des Sinns, der angesichts totaler Sinnlosigkeit zur blossen Chiffre verblasst ist. «…wenn nach uns jemand die Welt wieder aufbaut, wird es eine schweigsame Welt sein.»

Info: Heinz Helle, «Eigentlich müssten wir tanzen», Suhrkamp Verlag 2015, 173 Seiten, ISBN: 978-3-518-42493-3, 28.90 Franken.
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Zur Person
Heinz Helle, geboren 1978 in München, Studium der Philosophie in München und New York, Arbeit als Texter in Werbeagenturen, Dissertation im Bereich Philosophie des Geistes. 
• Absolvent des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel, wohnhaft ebendort, verheiratet, eine Tochter. Sein Romandebüt «Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin» erschien 2014.
• Auszeichnungen und Preise: Deutscher Buchpreis (Longlist) 2015, Werkbeitrag der Schweizer Kulturstiftung 2015, Schweizer Buchpreis (Shortlist) 2014, Literaturpreis des Kantons Bern 2014, Ernst-Willner-Preis 2013 (im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs), Walter-Kempowski-Literaturpreis 2011.

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