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Gedanken zur Sprache

Ein Schwager auf dem Bock

Der Schwager oder was fremdsprachige Reiter mit angeheirateten Verwandten gemeinsam haben.

Symbolbild: Keystone

Christophe Pochon

In den letzten Wochen war viel vom Postauto-Skandal zu lesen. In früheren Zeiten sorgten die Postkutschen für Gesprächsstoff. Die Fahrt in den Pferdekutschen war meist beschwerlich und oft gefährlich. Unfälle und Überfälle waren nicht selten. Kein leichter Job für den Kutscher, den Postillion. Setzte der deshalb zur Sicherheit und für Hilfeleistungen jemanden ein, dem er vertrauen konnte? Den Ehemann der eigenen Schwester, beispielsweise? Oder den Bruder der Ehefrau? Dann wäre der Kutscher der Schwager eines solchen Begleiters gewesen.

Hoch auf dem gelben Wagen
Jedenfalls scheint im populären Volkslied «Hoch auf dem gelben Wagen» des deutschen Dichters Rudolf Baumbach (1840 bis 1905) die erste Strophe aus der Sicht genau eines solchen Helfers zu beginnen, der sich neben seinem verschwägerten Kutscher befände: «Hoch auf dem gelben Wagen / Sitz’ ich beim Schwager vorn». Und im Gedicht des österreichischen Lyrikers Nikolaus Lenau (1802 bis 1850), «Der Postillion», könnte ein ähnlicher Fall vorliegen. Dort heisst es: «Schwager ritt auf seiner Bahn / Stiller jetzt und trüber;».

Es stimmt: Ein Schwager ist ein angeheirateter Verwandter. Aber mit dem Wort «Schwager» wurden im Zusammenhang mit Kutschenfahrten  mitnichten familiäre Verhältnisse wiedergegeben. Die zitierten Beispiele aus den beiden lyrischen Werken sagen etwas ganz anderes aus, nämlich, dass «Schwager» noch eine weitere Bedeutung hatte, jene für «Kutscher», für «Postillion» – für jenen Mann also, der auf dem Bock sass. Wie kam das?

Das Ohr schafft sich seine eigenen Wörter
«Schwager» sei eine Verballhornung des französischen Wortes «chevalier» (Reiter, Ritter), schreibt das Online-Portal «pferdekutscher.de». Die Nachrichtenübermittlung, die Briefbeförderung von Ort zu Ort, wurde vor langer Zeit von Postreitern besorgt. Erst später kamen Kutschen auf.

Das Ohr deutet fremd klingende Laute allmählich um, bis die Einheimischen aus einem solchen Prozess neue Wörter geformt haben. So entstand denn nach übereinstimmenden Quellen aus «chevalier» und dem italienischen «cavaliere» (ebenfalls: Reiter) im oberdeutschen Sprachbereich nach und nach «Schwalger», im schweizerischen Raum «Schewalger». In der deutschen Sprache setzte sich demnach schliesslich «Schwager» durch. Viel geläufiger für den Gespannführer eines Pferdefuhrwerks, den Kutscher mit Postkutsche, wurde allerdings das Wort «Postillion».

Der letzte Postillion: ein Gerippe
In Baumbachs Gedicht geniesst der Passagier vorne hoch auf dem gelben Wagen, der Postkutsche, der neben dem Schwager sitzt, die Fahrt. Gerne möchte er da oder dort verweilen, «aber der Wagen, der rollt». Dieser Wagen ist letztlich die Zeit, die unaufhaltsam zerrinnt; keiner kann sich dieser Zeitreise  entziehen, keiner kann die Uhr stoppen, jedes Verweilen an schönem Ort ist befristet, wir müssen unaufhaltsam weiter. Jener, der unsere letzte Reise lenkt, wird ein Gerippe sein, mit «Stundenglas statt Horn»: der Tod, der uns aus dem Leben führen wird; darauf weist Baumbach am Schluss hin.

An den Tod erinnert auch Lenaus Poesiestück: Bei einem Friedhof hält der Schwager an, eben «stiller jetzt und trüber», wie der Fahrgast bemerkt. Der Grund: Der Schwager will einen toten Kameraden, einen andern Postillion, ehren, und den Klang des Horns hat der Mitfahrende danach noch lange im Ohr, als Mahnung an die Vergänglichkeit des Menschen.

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