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Lenzburg

Entscheiden tut manchmal weh

Tausende Entscheidungen machen uns täglich das Leben schwer. Das Stapferhaus widmet dem Entscheiden nun eine grossartige Ausstellung – mit Tipps für Unentschlossene.

Während die einen Gott spielen und über ihre Wunschkind bestimmen, nimmt das Schicksal anderen die Entscheidung ab. Bild: Anita Affentranger/zvg

Simone Tanner
Esse ich heute Salat oder ein schönes Wildmenu? Leiste ich mir die braunen Lederstiefel oder die teure Tasche? Und mache ich nun Kinder oder doch lieber Karriere? Tag für Tag machen uns kleine und grosse Entscheidungen das Leben schwer. In einer Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten stehen wir alle paar Sekunden vor eine Weggabelung. Gehirnforscher gehen davon aus, dass wir bis zu 20'000 Mal pro Tag die Qual der Wahl haben und uns bewusst oder unbewusst für eine der Optionen entscheiden (müssen).

Treue oder Freiheit?
Da ist sie, die erste Qual der Wahl. Gleich beim Eingang muss man sich entscheiden – für eine der sechs Einkaufstaschen. Mit ihr und einer «Entscheiden-Card» begibt man sich danach auf den Weg durch den Supermarkt der Möglichkeiten – diese ebenso klug wie originell konzipierte Themenausstellung.

Erstes grosses Thema ist die Liebe. Eine Infografik zeigt auf, wann die meisten Menschen sich für das erste Mal entscheiden und ob wir bei der Partnerwahl auf den Po oder das Portemonnaie achten. Obwohl heute jede zweite Ehe geschieden wird, glauben noch über 80 Prozent der Jugendlichen an die ewige Liebe. In einer Toninstallation erzählen Paare und Singles, ob ihnen Treue oder Freiheit wichtiger ist. Und wie halte ich es mit der Treue und der freien Liebe? Der Test am Computer spuckt am Ende das Ergebnis in Form eines Strichcodes aus, der auf die «Entscheiden-Card» geklebt wird.

Wie die Wahl des Partners ist auch jene der Ausbildung immer seltener ein Entscheid fürs Leben. Studienabbruch, Umschulung, Weiterbildung, Jobwechsel, Aufstieg, Ausstieg – alles an der Tagesordnung. Zuerst etwas Rechtes lernen scheint aber auch heute seine Gültigkeit nicht verloren zu haben. So träumt eine der befragten Jugendlichen zwar davon, als Modedesignerin mit High-Heels durch New York zu stöckeln, doch gelernt wird erst einmal Lehrerin. Und ich? Bin ich ein Sesselkleber, was meinen Job angeht oder doch immer auf der Suche nach etwas Besserem? Der zweite Test bringt die Wahrheit ans Tageslicht.

Leben oder Tod?
Im Container, der an die Halle des Stapferhauses angedockt ist, geht es ums Eingemachte. Denn wir entscheiden schon lange nicht mehr «nur» über Liebes- oder Berufsdinge. Heute spielen wir auch Gott und können die Grösse unserer Brüste oder den Zeitpunkt unseres Todes bestimmen. Ein erstes Unbehagen ergreift einen in dem engen, klinischen Raum mit den Plastiktüren. Die Texte und Exponate zur Gentechnologie, plastischen Chirurgie und zum Tod verstärken das mulmige Gefühl. Was, wenn existenzielle, ethische Entscheide in die Hände der falschen Leute gelegt werden? Wie in einem Science-Fiction-Film eröffnen sich einem die Horrorszenarien. Zum Glück gibt es Menschen, die aufpassen: «Das Recht auf Selbstbestimmung darf nicht ausgespielt werden gegenüber jenen Ansprüchen, die eine Gesellschaft verfolgt, die auch gemeinschaftliche Ziele hat.», sagt Nikola Biller-Adorno vom Institut für Biomedizinische Ethik an der Universität Zürich.

Bauch oder Kopf?
Über Leben und Tod entscheidet manchmal auch der Herzchirurg Thierry Carrel. Er und weitere Entscheidungsträger wie Urs Meier (Ex-Fifa-Schiedsrichter), Oswald Grübel (Ex-CEO der UBS), Roger Köppel (Chefredaktor der «Weltwoche») oder Hans Wiprächtiger (Ex-Bundesrichter) erzählen in Videos, worauf es beim Entscheiden ankommt. Zauderer kann man in ihren Berufen nicht gebrauchen. Für Max Frischs Aussage, dass allein der Zweifel human mache, hat man in der harten Arbeitswelt kein Gehör und keine Zeit. Doch was ist ausschlaggebend für einen wichtigen Entscheid, die Intuition oder doch die Vernunft? Auf beides kommt es an, so das Fazit der meisten Verantwortungsträger.

In dieses Horn bläst auch die Wissenschaft: «Kluge Entscheide sind die, bei denen Kopf und Bauch, Verstand und Gefühl koordiniert sind», so die Psychoanalytikerin Maja Storch. Tönt gut. Einfacher macht die Aussage das Entscheiden aber nicht. Wirklich aus dem Dilemma helfen einen dagegen die vielen Rezepte, Tipps und Tricks. So kann man es zum Beispiel mit dieser Übung probieren: «Was würde mich mit 80 zum Weinen bringen, weil ich es erlebt oder versäumt habe?»   

Zufall oder Schicksal?
Ob für Zauderer oder Zupacker, die aktuelle Ausstellung im Stapferhaus ist einmal mehr grandios. Reich, informativ, intelligent, interaktiv; mal witzig, mal ernst. Schade, dass die Beeinflussung von Entscheiden, etwa durch die Werbung, nur am Rande Platz findet. Sehr hilfreich sind dagegen die vielen Strategien bei der Wahl der richtigen Entscheidung. Und mit der Auswertung der Tests in Form einer persönlichen Quittung, erfährt man auch viel über sich selbst.

So schwer es einem oft fällt, entscheiden zu können ist ein Privileg. Das ruft einen die Ausstellung gegen Schluss noch einmal in Erinnerung. Eine Depression kann nämlich die Fähigkeit zum Wählen völlig lahmlegen. Wie sie sich im Dschungel der Möglichkeiten verloren haben, erzählen zwei Entscheidungskranke.

Und wieder andere haben gar keine Wahl. Drei Geschichten zeigen auf, wie der Zufall oder das Schicksal für diese Menschen entschieden hat.     

 

Stapferhaus Lenzburg
  • Ausstellung bis 30. Juni 2013. Öffnungszeiten: Di–So 10–17 Uhr, Do 10–20 Uhr
  • Begleitete Rundgänge, Einführungen und weitere Veranstaltungen werden angeboten.
  • In verschiedenen Workshops («Klug entscheiden mit Kopf und Bauch» oder «Manipulation») kann das Thema Entscheiden vertieft werden. Spezielles Angebot für Schulklassen.
  • Zur Ausstellung ist ein Themenmagazin mit Inhalten aus der Ausstellung, Essays, Expertengesprächen und künstlerischen Positionen erschienen.

Link: www.stapferhaus.ch

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