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Kino

«Es war eine hirnrissige Idee»

Dave Tucker hat es geschafft: Seit Jahren schreibt er erfolgreich Drehbücher – zuletzt dasjenige zu «Stürm». Im Interview spricht
der Bieler über seinen grössten Feind, die Zukunft des Kinos und warum er bis heute Heimweh nach Biel hat.

Streaming oder KIno? «Das Gefäss, in dem etwas stattfindet, ist letztlich irrelevant. Es geht um die Geschichten», sagt der Bieler Drehbuchautor Dave Tucker. 
Er ist überzeugt, dass gute Ideen immer einen Platz finden werden. ©SRF/Oscar Alessio

Interview: Raphael Amstutz

Dave Tucker, woher kommt Sie, Ihre Faszination für den Film?

Dave Tucker:  Den Grundstein gelegt haben wohl die Eltern. Wir sahen eigentlich selten fern. Aber manchmal, da «mussten» wir: Grosse Werke wie Federico Fellinis «Amarcord», David Leans «Lawrence of Arabia» oder Jacques Tatis «Mon oncle» flimmerten über den kleinen Bildschirm. Da war ich wohl so um die zehn. Film gehörte zu Hause ganz selbstverständlich zur Hochkultur, gleichauf mit klassischer Musik oder ... gar den Beatles (lacht). Was ich in diesem Alter von den grossen Klassikern verstanden habe, ist natürlich eine andere Sache (lacht). Später habe ich das Kino dann noch einmal für mich selbst entdeckt.

 

Wie ist das gegangen?

Das Bieler Kino Metro, leider längst verschwunden, war ein heimliches Abenteuer: Dort liefen Zombiestreifen, Kung-fu-Filme und billigste Erotik in Endlosschleife – alles was als «Schrott» galt eben. Für mich waren diese B-Movies also gleichzeitig Revolte gegen das Bildungsbürgerliche und Offenbarung. Als 1994 «Pulp Fiction» als Welturaufführung am Festival von Locarno zu sehen war, sass ich auf der Piazza Grande und dachte: Wow! Was ist Quentin Tarantino für ein genialer DJ; alles Zitate, die kenne ich doch aus dem Metro.

 

Sich für das Kino als Zuschauer zu 
interessieren oder in diesem Geschäft auch tatsächlich zu arbeiten, sind dann aber doch sehr unterschiedliche Dinge.

Ja, irgendwann ist die Entscheidung gefallen, dass ich Teil dieser Branche werden möchte. Es bedurfte dafür keines Schlüsselereignisses, es war einfach die Summe meiner Erlebnisse und Wünsche (denkt nach). Obwohl ich natürlich wusste, dass dies eine hirnrissige Idee war (lacht). Ich würde es auch heute niemandem empfehlen, der in der Schweiz Karriere machen will.

 

Wie ist der erste Schritt schliesslich geglückt?

Mir war klar, dass ich einen Zugang zum Medium brauchte. Und hier kommt auch das «Bieler Tagblatt» ins Spiel: Ich lernte Mario Schnell kennen, der damals für die Filmberichterstattung zuständig war. Ich begann also als Filmkritiker, konnte mich dadurch für Festivals akkreditieren und kam so näher an Leute heran, die nicht bloss kommentierten, sondern eben produzierten.

 

In dieser Zeit waren die Möglichkeiten einer Ausbildung hierzulande aber deutlich beschränkter als heute.

In der Schweiz gab es damals noch keine ernst zu nehmende Filmschule. Deutschland wäre eine Alternative gewesen, so auch Österreich. Da war man jedoch sehr auf Kunst im engeren Sinne fixiert, und dafür fehlte mir so etwas wie ein gestalterischer Vorkurs. Ich habe mich deshalb in New York beworben und wurde zu meiner Überraschung als einer unter vielen ausgewählt.

 

Womit, denken Sie, haben Sie 
überzeugt?

Das weiss ich bis heute nicht so genau, schliesslich war ich sprachlich und kulturell untervorteilt. Vielleicht hat es damit zu tun, dass man dort für einen real existierenden Markt ausgebildet wurde. Kunst als Selbstverwirklichung, das interessierte die Amis weniger als den Drang zu erzählen, zu unterhalten. Den hat man mir wohl angemerkt.

 

Warum schliesslich der Entscheid 
für das Drehbuch?

Mein Grundstudium war breit. Nachher hat es sich aufgeteilt in Produktion, Kamera, Regie und eben Drehbuch. Ich habe ziemlich rasch gespürt: Hier ist mein Platz. Dort, wo die Geschichten entstehen.

 

Alle wollen doch Regisseur werden.

Ja, das ist bei Anfängern weltweit so. Mir wurde jedoch rasch klar, dass ich nicht das Talent habe, 100 Menschen auf einem Set zu dirigieren. Ich wollte Architekt, nicht Bauführer sein.

 

Ein Vorteil ist es ja sicher auch, dass im angelsächsischen Sprachraum die Drehbuchautorinnen und –autoren einen viel höheren Stellenwert haben.

Allerdings. Man wird dort, wie übrigens auch im französischen Kino, als ebenbürtig angesehen, während Mitteleuropa noch viel zu lange rein auf das Autorenkino fokussiert war. Es mag ja sein, dass die Regie auch gut schreiben kann. Bloss ist das eben die grosse Ausnahme. In der Regel jedoch führt das Zusammenspiel zu guten Filmen.

 

Haben Sie eine Erklärung für diesen kulturellen Unterschied?

Wie gesagt, das hat damit zu tun, dass bei uns über lange Zeit so gut wie kein Filmmarkt existierte. «Schweizerfilm», das war schon fast ein Synonym für 
«Cinema Copains» – mit dem Geld von Freunden für Freunde inszenierte Experimente also.

 

Wie haben Sie das in den USA erlebt?

Aufregend, lebendig, abenteuerlich. Aber auch erschreckend kompetitiv. Ich hatte deshalb oft Heimweh. Zwischen diesen beiden Polen habe ich mich bewegt. Wenn es ganz arg wurde mit dem Längizit, musste ich dann Züri West hören.

 

Wenn Sie heute zurückblicken: Was hat Ihnen diese Zeit gebracht?

Ich lernte, die Angst vor dem eigenen Mut zu überwinden. Mich vor aufgeplusterte Produzenten hinzustellen und zu sagen: Ich habe erzählerisches Handwerk zu bieten! Was am Anfang jedes Projektes erst mal ein Bluff ist, aber in der Schweiz mangelte es nach meiner Rückkehr tatsächlich an guten Geschichten, vor allem für den endlich an Fahrt aufnehmenden Fernsehfilm. Vom Kino konnte ich erst mal bloss träumen. Auch fiel mir nun auf, dass wir viel zu sehr an dieser Frage hängen: Ist das nun Kunst oder Kommerz? Eine Unterscheidung, die in den USA nie Thema war. Dort ging es einzig darum: Funktioniert die Geschichte oder nicht.

 

Nach Ihrer Rückkehr haben Sie Biel bald wieder verlassen. Sie lebten 
zuerst in Genf, nun wohnen Sie seit über 20 Jahren in Zürich.

Nun ja, das war keine Liebesentscheidung. Es war eine schöne, lehrreiche Zeit, als ich zuerst am Aufbau von «Telebielingue» mitwirken durfte. Doch dann musste ich endlich dorthin, wo man in der Schweiz nun auch Spielfilme für das ganze Publikum zu produzieren begann. Genf entpuppte sich für mich dabei als «geschlossene Gesellschaft», Zürich dagegen offen für «Dahergelaufene». Da konnte man irgendwie ankommen. Ein leises Heimweh nach Biel ist dabei geblieben: der lebendige Austausch und den starken Zusammenhalt der Kulturschaffenden über alle Sparten und zwei Sprachen hinweg. Das Biel der späten 90er-Jahre ist und bleibt ein Nährboden für mich. Zürich dagegen ist fragmentierter, der Verteilkampf härter. Nicht gerade wie in echten Grossstädten, etwa Berlin, aber immerhin.

 

Wie haben Sie es in Zürich schliesslich geschafft?

Sprosse um Sprosse: vom Aufnahmeleiter über Regie- und Schnittassistent bis hin zum SRF.

 

Wie macht man das? Man klopft mit einer Idee beim Schweizer Fernsehen an?

Ja. Einige Kollegen und ich hatten 2005 die Idee für einen 90-minütigen Fernsehfilm. Wir gaben das Projekt ein – und die Sache wurde akzeptiert. Wie in vielen anderen Bereichen ist aber auch viel Glück für diese erste Hürde entscheidend. Und diese gilt es zu nehmen.

 

Das war «Sonjas Rückkehr».

Genau. Wir haben damals wohl einen Nerv getroffen. Das Melodram mit Melanie Winiger in der Hauptrolle wurde am Sonntagabend, also in der Primetime, gezeigt, 600 000 Zuschauerinnen und Zuschauer schalteten ein und die Kritiken waren gut.

 

Ein Erfolg und dann rollt es. 
Ist das tatsächlich so auf einen Satz reduzierbar?

Schön wäre es! Aber ein erster Erfolg ermutigt natürlich.

 

Nach nun über 20 Jahren Erfahrung. Gibt es sie noch, die Angst vor dem weissen Papier?

Ja, sie ist mein grösster Feind – und ich werde diese Angst nie verlieren.

 

Was tun Sie dagegen?

So seltsam es klingen mag: schreiben, schreiben, schreiben, um in den Fluss zu kommen.

 

Und wenn auch das nicht geht?

Dann schreibe ich darüber, dass ich nicht weiss, was ich schreiben soll.

 

Das ist die schwierige Seite. Was ist das Schöne am Drehbuchschreiben?

Wenn es gelingt – was längst nicht immer der Fall ist. Wenn das Zusammenspiel von Story und Regie mehr ergibt, als eine blosse Addition. Wenn schliesslich Schauspiel, Kamera und Licht das Papier zum Leben erwecken. Das ist der magische Augenblick. Und natürlich, wenn die Leute das dann auch wirklich sehen wollen. Sonst war alles umsonst.

 

Sind Sie über die Jahre eigentlich ein kritischerer Zuschauer geworden?

(denkt nach) Ich weiss es nicht. Natürlich sehe ich heute besser hinter die Architektur eines Werks, warum es so und nicht so gemacht wurde. Es gibt aber immer noch diese Wow-Effekte.

 

Was heisst das?

Dass ich im Kino sitze und denke: Diese Geschichte hätte ich so gerne selber geschrieben.

 

Wann ist Ihnen das zum letzten Mal geschehen?

Bei «Drunk» von Thomas Vinterberg. Ein Film so ehrlich, so wahr, so unterhaltsam.

 

Wie hat sich die Qualität der Drehbücher in der Schweiz in den letzten
10, 20 Jahren verändert?

Sie sind besser geworden.

 

Warum?

Man arbeitet vom ersten Buchstaben an mit allen Akteuren zusammen, versteht das Medium, als das, was es ist: professionelles Gemeinwerk. Ein sehr teures Werk dazu. Am Publikum vorbei zu arbeiten, das liegt heute nicht mehr drin.

 

Was wünschen Sie dem Schweizer Film?

Dass er endlich nicht mehr als eigenes Genre verstanden wird. Dänemark zum Beispiel hat das längst überwunden. Mir fehlt ein wenig das grosse Denken. Ich wünsche dem Schweizer Film mehr Mut zum Universellen – so wie das in der 
Literatur schon immer der Fall war.

 

Haben Sie ein Beispiel?

Zuletzt gerade «Tschugger». Das ist für mich Rock’n’Roll. Die haben alles auf eine Karte gesetzt, nicht erst auf den Segen öffentlicher Gelder gewartet, sondern investiert und gleich bei Sky vorge sprochen. Ich erinnere mich an einen Satz aus dem Studium: Do it or leave it! Klingt ausgelutscht, ist aber halt doch so – man investiert und riskiert erst einmal. Ich bin begeistert von dieser neuen Generation von Filmschaffenden, die grösser und mutiger denken, als wir es uns zutrauten.

 

Wie eng ist eigentlich der Kontakt unter den Schweizer Drehbuchautorinnen und –autoren?

Der Kreis ist zwar überschaubar, man kennt sich. Es kommen jedoch mehr und mehr Gesichter hinzu, denn die Branche hat sich internationalisiert – endlich!

 

Die Kinos trifft es in der Pandemie knüppelhart. Werden sie die Coronakrise überleben?

Ich wünsche es mir von Herzen. Doch ich zweifle daran, dass es ein Kino wie vor der Pandemie je wieder geben wird. Unser Publikum wird älter und weiblicher. Eher Konkurrenz zum Theater. Die ganz Jungen werden wir wohl nicht mehr holen können. Lichtspielhäuser auf dem Land und in mittelgrossen Städten mit einer jahrzehntelangen Tradition, um die mache ich mir Sorgen. Umso mehr bewundere ich Familienbetriebe wie die Epelbaums in Biel. Da werden Kinos über Generationen hinweg mit viel Herzblut und Erfolg geführt. Aber ich trage da zwei Hüte.

 

Wie meinen Sie das?

Als Cinéphiler tut es mir leid um die medialen Veränderungen. Es wird grosse Verluste geben – menschlich, kulturell, finanziell. Mein Job hingegen ist in den letzten Jahren fast sicherer geworden. Es gibt so viele Auswertungskanäle wie noch nie.

 

Sie halten also nichts vom Kampf zwischen Streaming und Kino?

Diese Diskussion ist gänzlich obsolet. Das Gefäss, in dem etwas stattfindet, ist letztlich irrelevant. Es geht um die Geschichten. Gute Geschichten werden immer einen Platz finden.

Info: Der Bieler Drehbuchautor Dave 
Tucker (52) hat an der New York University Film studiert. Anschliessend arbeitete er bei Kino- und TV-Spielfilmen als Regie- und Schnittassistent. Ab 1999 war er als Drehbuchautor für die Sendung «L’autre télé» der Télévision Suisse Romande RTS tätig und verantwortete bei SRF Drehbücher für die Erfolgsserien «Der Bestatter» und «Wilder». 2013 gewann er mit seiner Spielfilm-Idee «Stürm» den ersten Treatment-Award beim Zurich Film Festival. Momentan schreibt er an zwei Kino-Drehbüchern und einer neuen SRF-Serie. Tucker lebt seit 20 Jahren in Zürich.

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