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Literatur

Fallende Steine, falsche Nachtigallen

Franz Hohler hat im Band «Der Enkeltrick» neue Geschichten veröffentlicht. Sie weisen den in Biel geborenen Schriftsteller erneut als einen der ganz grossen, überragenden Erzähler dieses Landes aus.

Franz Hohler verbindet Zärtlichkeit und Melancholie zu Geschichten. Bild: Keystone

Charles Linsmayer

«Steinflut» heisst einer seiner Romane aus dem Jahre 1998 – ein Buch, das die Vorgeschichte des Bergsturzes von Elm im Jahre 1881 erzählt, der die 114 Einwohner des Dörfchens Elm unter sich begrub und einzig die siebenjährige Katharina Disch überleben liess. In Hohlers neustem Buch, «Der Enkeltrick», lässt einen der Titel einer der elf Geschichten, «Ein Steinregen», unvermittelt an jenen Roman denken. Wobei «Regen» bereits etwas zu viel gesagt ist, handelt der Text doch von lauter einzelnen, nach und nach etwa auf Hüfthöhe plötzlich auftauchenden und zu Boden fallenden faustgrossen Steinen, die von einer imaginären Hand noch warm sind.

Wo Unheimliches passiert

In einem Hotel in den Bergen findet die kuriose Begebenheit im letzten Jahrhundert statt, und zunächst glaubt man weder dem Küchenburschen noch dem Koch, dass da einfach Steine auf den Küchenboden herunterpurzeln. Um nicht für Spinner gescholten zu werden, beschliessen die beiden jedenfalls zunächst einmal, die Sache für sich zu behalten. Aber als auch der zweite Koch Steine herunterfallen sieht, die Lehrtochter Lina das Weite gesucht hat und schliesslich doch der Direktor unterrichtet werden muss, macht sich die Angst breit und beschliesst man, den Kapuzinerpater Kajetan für einen Exorzismus aufzubieten.

Der aber ist erkrankt, und so dauert der unheimliche Steinregen so lange weiter, bis ein Gast namens Schnetzelmann, der auf einer Weltreise in dem einsamen Hotel Station gemacht hat und den niemand mit dem Vorfall in Verbindung bringen würde, wieder abreist. «An diesem Tag fiel kein einziger Stein mehr auf den Küchenboden, in den folgenden Tagen und Wochen auch nicht, und auf die Dienste von Pater Kajetan konnte verzichtet werden.» Hohler erzählt das ruhig und gelassen und so, als berichte er von einem alltäglichen Vorfall, und erst allmählich beginnt man stutzig zu werden und merkt zunächst nicht, wie das Reale ins Surreale kippt und aus einer sachlichen Schilderung eine rätselhafte, ihr Geheimnis nicht preisgebende Geschichte wird.

Wo Grosi nach Rom reist

Es gibt, wie immer meisterhaft erzählt, in dem Band auch Erzählungen, bei denen alles mit rechten Dingen zugeht, obwohl es sich jedes Mal um einen ungewöhnlichen und überraschenden Vorfall handelt: In der Titelgeschichte «Der Enkeltrick» etwa, wo eine Seniorin auf eine Betrügerin hereinfällt, die vorgibt, deren Enkelin in Rom mit einer Summe von 22 000 Franken aus dem Gefängnis loskaufen zu können, wo sie eines Drogendelikts wegen inhaftiert sei. Und wo die Grossmutter schliesslich mit dem Geld selbst nach Rom fährt und damit die Hochzeitsreise mit ihrem längst verstorbenen Mann nachholt, die seinerzeit wegen Geldmangels hatte aufgeschoben werden müssen.

Oder «Die Nachtigall», mit der Hohler die Reihe seiner wunderbaren Vogelgeschichten weiterführt – man denke an «Die blaue Amsel» oder «Die Mönchsgrasmücke» –, dabei aber nicht von einem wirklichen Vogel, sondern von einem chinesischen Restaurantbesitzer erzählt, der als junger Mann in Shanghai die alte chinesischen Kunst der Vogelstimmenimitation studiert hatte und in wehmütiger Erinnerung an jene Erfahrungen nachts in den Wald hinaus geht und auf eine so täuschend echte Weise Nachtigallengesänge erklingen lässt, dass ein ganzes Dorf inklusive dem örtlichen Ornithologenverein ahnungslos darauf hereinfällt.

Oder «Das verlorene Lachen», wo der Erzähler, unverkennbar Franz Hohler selbst, bei einem liebevoll detailliert geschilderten – ja mit echten Menüvorschlägen verknüpften! – Aufenthalt auf einer Tessiner Alp die besagte Novelle von Gottfried Keller liest und auf belustigende Weise nacherzählt, um am Ende selbst in ein fröhliches Lachen auszubrechen, weil er das Reclam-Bändchen, das er statt des sehr viel schwereren Bandes der Keller-Werkausgabe eigentlich auf seine Wanderung hatte mitnehmen wollen, bei der Rückkehr unter dem Spielzeugxylophon seiner Enkelin wiederfindet.

Wo es surreal wird

Am eigentümlichsten und abgründigsten erscheinen in dem Band aber jene Erzählungen, die wie «Ein Steinregen» irgendwann ins Surreale kippen und den Bereich der realistischen Erzählkunst verlassen. «Der Tisch» zum Beispiel, der uns wiederum in ein einsames Berggasthaus führt, das der Erzähler immer wieder aufgesucht hat und wo er sich darüber wunderte, dass ein bestimmter Tisch jedesmal als reserviert gekennzeichnet war, obwohl der erwartete Gast niemals eintraf. Er bringe Unglück, bedeutet man ihm, und nach Jahrzehnten bewahrheitet sich das rätselhafte Fatum, an das der Erzähler einfach nicht glauben wollte, dennoch, als das Gasthaus kurz nach dem Besuch einer Bundesrätin, die sich über das Verbot hinweggesetzt und am besagten Ecktisch Kaffee und Kuchen gegessen hat, bis auf die Grundmauern abbrennt.

Das Handy als Wahrsagerin

Dass Surreales auch mit der modernen Technik in Verbindung stehen kann, belegt die Erzählung «Geh nicht!», die davon handelt, dass ein Nokia-Handy, von dem sich sein Besitzer zu Gunsten eines Smartphones getrennt hat, auch nach der Inbetriebnahme des Nachfolgemodells noch immer Kurznachrichten vermeldet. Was der Besitzer auch unternehmen will, jedesmal erreicht ihn der merkwürdige Befehl «Geh nicht!», bis eines Tages, als er in den Ferien im Wallis einen weglosen Berg über der Baumgrenze besteigen will, die Aufforderung «Geh!» auf dem Display zu lesen ist. Er glaubt dem Handy, das so eine Art «Pythia» für ihn geworden ist, und stürzt beim Abstieg prompt so schwer, dass er nur dank ärztlicher Operationskunst gerettet werden kann. Er habe Glück gehabt, meint die Ärztin, er aber antwortet: «Glück? Ich hatte Pech! Pythia hat mich angelogen.»

Haydn am Fussballmatch

Ins Surreale verweist auch eine der schönsten Geschichten des Bandes, die Joseph Haydn gewidmet ist und «Abschied» heisst. Als der auf den Tod kranke Komponist an einem Tag im Jahre 1809 nach einer Kutsche ruft und nochmals einen Ausflug machen will, nennt er dem Kutscher «Zum Sonnenuntergang» als Ziel.

Er wird dann aber, bevor er in einer Kirche seinem eigenen Abschied beiwohnen kann, an einen Ort gefahren, wo die Zeiten völlig durcheinandergeraten: in ein Stadion, wo ein Fussballländerspiel stattfindet und er sich ganz schön über Frauen in Hosen und die zwei Kolonnen von Männern in farbiger Unterwäsche wundert, die einen Ball in einen Kasten befördern, der von einem Wächter in schwarzen Handschuhen gehütet wird. Vertraut ist ihm einzig, was am Ende, als die Männer wieder aufgereiht dastehen, gespielt wird: seine Hymne «Gott erhalte Franz den Kaiser»!

In der Tradition Stifters

Das sind – mehr zu verraten hiesse den Spielverderber spielen – sieben der elf Texte dieses Bandes, der, wie immer, wenn Franz Hohler neue Geschichte publiziert, jenes ganz Besondere zum Tragen bringt, was diesen Erzähler auszeichnet: ein Können, das der Gesellschaftssatire ebenso gewachsen ist wie der Tradition der hebelschen Exempelgeschichte oder der stifterschen Novelle, das in einer auf einer exakten Beobachtungsgabe und einem unbestechlichen Blick beruhenden Darstellungsweise Spannung, Anschaulichkeit, sprachliche Unmittelbarkeit, ja Zärtlichkeit und Melancholie zu Geschichten verbindet.

In deren Mittelpunkt stehen wunderbar genau gezeichnete, oftmals unvergesslich eigentümliche Figuren, für die bei aller Verankerung im Alltäglichen und Nachvollziehbaren nach wie vor jener Satz Gültigkeit hat, der im Band «Das Ende eines ganz normalen Tages» von 2008 zu finden ist: «Nichts ist so unwahrscheinlich, dass es nicht passieren kann.»

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