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Biel

Fliegendes Fahrrad, fliegender Wechsel

Der Moment, wenn man den Boden unter den Füssen verliert und zu schweben beginnt. Diesen Moment machten die beiden Artisten Jean Charmillot und Jérôme Galan zu ihrem gemeinsamen Stück «Vol d’Usage».

Ein kurzer Moment auf dem Boden: Jérome Galan und Jean Charmillot (auf dem Rad) erzählen eine Geschichte übers Fliegen. Bild: zvg/Vasil Tasevski
  • Dossier
Vera Urweider
 
Wenn man an ein fliegendes Fahrrad denkt, dann wohl an jenes von E.T., der damit nach Hause fliegt. Vielleicht sucht man noch im weltweiten Netz nach dem Begriff und landet auf der Seite der Flykes – tatsächlich Fahrräder an Gleitschirmen. Aber bestimmt denkt man nicht an ein gelbes Zelt, an zwei Jungs, die eine verrückte Idee hatten oder gar an Zirkus. Aber genau darum geht es: um ein gelbes Zelt, um eine verrückte Idee zweier junger Männer und um Zirkus.
 
Hauptsache miteinander
«Die Idee zur Geschichte mit dem Fahrrad und dem Unfall, die kam spontan. Die erzählen wir nun, damit wir eben eine gute Geschichte haben», sagt Jean Charmillot. Er schmunzelt, schaut seinen Kumpel an und sagt schliesslich: «Wir wollten einfach unbedingt zusammen arbeiten. Das war die Basis. Der Rest kam danach automatisch.» Charmillot ist Zirkusartist aus dem jurassischen Vicques. Sein Kumpel und Artistenduopartner Jérôme Galan ist Franzose, aus der Nähe von Bordeaux. Kennengelernt haben sie sich 2007 am renommierten Centre Nationale des Arts du Cirque CNAC im französischen Châlons-en-Champagne, wo sie sich beide ihre Jugendträume erfüllten und eine professionelle Artistenkarriere einschlugen. Charmillot in den Disziplinen Seiltanz und Kunstrad, Galan an den Strapaten, also Bänder, die in der Luftakrobatik zum Einsatz kommen. Zusammen sind sie seit über zehn Jahren die Compagnie Cie.Quotidienne. Seit fünf Jahren sind sie mit ihrem aktuellen Stück «Vol d’Usage» in ganz Europa unterwegs, haben es bereits über 200 Mal aufgeführt. Und immer mit dabei: Ihr gelbes Zirkuszelt, das Chapiteau.
 
«Vol d’Usage» ist keine Show, die in einem bestehenden Zirkusprogramm eingebaut werden könnte. Charmillot und Galan touren nicht als Gäste mit einem grossen Zirkus mit. Ihre Show, ihre Geschichte, dauert ganze 50 Minuten und ist final millimetergenau auf ihr Chapiteau abgestimmt. Das ist notwendig, da sie mit ihrer eigenwilligen und vielleicht gar einzigartigen Kombination aus Kunstrad und Strapaten extra viel Platz und einen ganz flachen Boden brauchen. «Um unsere Disziplinen so zu mischen, wie wir uns das vorstellten, brauchten wir diese Fläche von zehn Quadratmetern», so Galan. Zudem arbeiten sie höchst feinfühlig, präzise und genau, was Höhe, Geschwindigkeit und Dauer anbelangt. «Sonst würde es nicht funktionieren.»
 
Aus Banalem ein Spiel
Aber zurück zur Geschichte mit dem Fahrrad und dem Unfall. «Vol d’Usage» dreht sich wortwörtlich im Kreis. Vier Kilometer legen Charmillot und Galan in den 50 Minuten auf dem Fahrrad zurück. Immer im Kreis. Immer in derselben Richtung. Nonstop. Mal der eine. Mal der andere. Mal beide. Und mal das Fahrrad auch alleine, mit genug Restschwung und Zentrifugalkraft. Dann, wenn das Fahrrad alleine ist, hängen die beiden in der Luft und mache weitere Umdrehungen. Und manchmal fliegt das Fahrrad sogar mit. Leicht, über dem Boden. «Es ist eher so ein Schweben», sagt Galan. An den Strapaten – zwei Artistenbänder, oben am Chapiteau angemacht, mit je einer Schlaufe, in welche man Hände oder Füsse stecken kann. Nicht zu verwechseln mit dem Vertikalseil (nur ein Seil, dem Vertikaltuch (gar kein Seil) oder dem Trapez (zwei Seile mit Stange dazwischen).
 
«Vol d’Usage» erzählt von einer alltäglichen Situation. Der Grundgedanke der Cie.Quotidienne ist denn auch, zu versuchen, aus Banalem ein Schauspiel zu machen. «Darum heissen wir ja auch ‹quotidienne›», so Charmillot. Täglich. Alltäglich. Also. Ein Mann auf einem Fahrrad. Ein Unfall. Der Mann fliegt vom Fahrrad. Und weiss nichts mehr. Während 50 Minuten versucht er, sich Stück für Stück wieder zu erinnern, und kommt dem Geschehenen immer näher. Nicht nur das Fahrrad dreht sich dabei im Kreis, sondern auch die Geschichte. «Wir wollten den Moment des Fluges festhalten», so Charmillot. Der Flug vom Fahrrad. Immer und immer wieder wird der Mann in «Vol d’Usage» vom Fahrrad «fliegen». Werden die beiden in der Luft schweben. «Er braucht quasi diesen Flug, um sich besser und besser erinnern zu können», sagt Galan. So ist der Name «Vol d’Usage» denn auch ein Wortspiel. Zum einen die poetische Seite, dieses «Brauchen» des Fluges für die Erinnerung, quasi «Flug: Verwendungszweck Erinnerung». Zum anderen die schlichte Übersetzung: Gebrauchsraub. «Auch das ist schliesslich alltäglich», die beiden lachen. «Du nimmst dir ein Fahrrad am Bahnhof, fährst damit nach Hause und irgendwann stellst es vielleicht wieder zurück. Das heisst auf Französisch ‹Vol d’Usage›», so Charmillot.
 
Eine eigene Sprache
Und so beginnt auch ihr Stück. Zwei Männer kommen des Weges. Da steht ein Fahrrad. Sie machen einen «Vol d’Usage» und erzählen damit die Geschichte des Mannes auf dem Fahrrad und dem Unfall, der den Flug zur Erinnerung braucht. Sind die 50 Minuten rum, die vier Kilometer gefahren, kommt das Fahrrad zum Stillstand, wo es vorher war, die beiden Männer gehen davon und der Kreis schliesst sich. Wer ist dabei der Mann mit dem Unfall? Keiner. Und beide. «Wir erzählen die Geschichte gemeinsam. Ergänzen uns gegenseitig», so Galan, «eigentlich zu dritt». Denn die beiden sehen das Fahrrad als dritter im Bunde, das ja manchmal gar alleine fährt.
 
«Vol d’Usage» kommt mit ganz wenigen Worten aus. In Biel auf der Neptunwiese im Rahmen der internationalen 72-stündigen «Nuit du Cirque» wird das Wenige jedoch sogar bilingual sein. Das Stück, ist eine Mischung aus Artistik und Choreografie. Eine Art Tanz mit dem Fahrrad. Und einer grossen Prise Humor. Und Spannung. Leise. Sanft. Musikalisch untermauert durch die Komposition des Schweizers Yannick Tinguely. «Jeder kann daraus ziehen, was er will», so Charmillot. «Die einen staunen 50 Minuten lang und lassen sich von den ewigen Kreisen in einen Bann ziehen, die anderen folgen eher der Geschichte, wieder andere werden von der Artistik berührt. So ist für jeden etwas dabei», ergänzt Galan.
 
Ein Ausflug in eine Art Traumwelt also. Mit zwei Artisten, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Der eine eher schmal und lang, mit unglaublichem Gleichgewichtssinne, der andere eher muskulös, kräftiger gebaut. Doch ein ganz typischer Strapatenartist, kraftvoll und streng, ist Galan nicht. «Er hat eine ganz eigene Sprache gefunden mit diesen Bändern», sagt Charmillot. «Viel sanfter und beweglicher.» Pause. «Ich glaube, genau darum wollte ich mit ihm arbeiten.»
 
Stichwörter: Artistik, Kultur, Biel

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