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Biel

Gefühl? Fehler. Wird gelöscht

Eine Welt, in der es keine Krankheiten gibt. In welcher Tod und Geburt reguliert werden. Ist das erstrebenswert? Das Theaterstück «Brave New Life» wagt den Sprung in die Extremzukunft. Wie weit darf Optimierung gehen?

Dominik Gysin spielt eine Hebamme, die in der Brutstätte den Menschen auf die Welt zu kommen hilft. Bild: zvg/Tom Bernhard
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Vera Urweider

«Es ist abstossend, wie du dich benimmst, Kurzweil. Diese Gefühle, die du hast, erzeugen zu viel Leid.» Pause. Stille. Anspannung. «Eine empathische Optimierung hätte dir gutgetan.» Er schau sie an. Kalt und gleichgültig. Sie zuckt zusammen. Irritation im Gesicht. Hat sie doch gerade alles getan, für ihn, den sie doch so liebt. Und um dessen Liebe sie kämpfen wollte. Opfer brachte. Das war ihr Fehler. Der Fehler in ihrem Code. Sie, die Figur Kurzweil, vom Namen her männlich, das Aussehen weiblich. Er, die Hebamme Doudna, verhalf Kurzweil auf die Welt. Das Geschlecht spielt keine Rolle. Die Fortpflanzung geschieht in Brutstätten. Ausgebrütet wird zweiundzwanzig Jahre lang. Zur Welt kommt man erwachsen. Sex kommt nicht mehr vor. Oder kaum. Und Gefühle schon gar nicht. Denn Gefühle sind es, die ein Wesen verletzbar, unberechenbar und deshalb fehlerhaft machen. Doch eines nach dem anderen.

Weit weg?
Der Berner Regisseur Dennis Schwabenland wagt sich in die Zukunft. An eine Zukunftsvorstellung, die «gar nicht mehr so weit weg ist, wie wir vielleicht meinen», wie er sagt. «Die Medizin, die Robotik und die Wissenschaft, die machen unglaubliche Fortschritte. Hätte man vor ein paar Jahren gesagt, dass wir 2021 unser Erlebtes und Gedanken in kleinen Geräten oder durchsichtigen Wolken speichern – niemand hätte es geglaubt. Heute hat fast jeder ein Smartphone», so der Theatermacher. Wir seien vom Chip in der Hand, mit dem man bezahlen kann, gar nicht mehr so weit entfernt. Und dann, «dann sind wir plötzlich beim Chip im Gehirn.» Mit seiner Theatercompany «thecodes» hat er ein Stück entwickelt, das sich genau diesen Zukunftsfragen stellt. «Brave New Life» fragt nach Ethik und Moral. Inwiefern ist es vertretbar, den menschlichen Körper zu verändern? Welchen Massstäben werden wir folgen, wenn die Natur uns kaum noch Grenzen setzt?

Das Technische ist nur eine Seite, die Schwabenland in «Brave New Life» behandelt. Neben Menschen stellt er Roboter, Transhumane und Humanoide. Und körperlose künstliche Intelligenz. Eine zweite Seite, die in seiner Zukunft vorkommt, ist das Medizinische. «Auch da sind wir bereits unglaublich weit fortgeschritten», sagt er. 2012 war der Durchbruch der Crispr-CAS9-Genschere, eine molekularbiologische Methode, um DNA gezielt zu schneiden und zu verändern. So können eben nicht nur blonde Haare designt, sondern auch Erbkrankheiten vermindert werden. «Stell Dir vor, es gäbe keinen Krebs mehr.» Schwabenlands Begeisterung für die Forschung ist spürbar. Doch bleibt er auch skeptisch. Es sei nicht nur eine ethische Grenze, die mit pränatalen Eingriffen in die DNA mindestens tangiert. Es entstünde eine neue Zweiklassengesellschaft. «Jene, die sich eine Optimierung leisten können. Und die anderen.»

Optimum?
Wir schreiben das Jahr 2071. Die Welt, wie wir sie heute kennen, existiert nicht mehr. Beziehungsweise nur noch an einem abgeschotteten Ort. In Stano, der Stadt der Nicht-Optimierten. Dort sind die Menschen ausgesetzt und hingebracht worden, die noch ganz Mensch sind. Die sich nicht optimieren lassen wollen. In Stano geht es genau so chaotisch zu und her, wie wir es 2021 kennen. Liebe, Hass, Geburt und Tod, Krankheiten, alt werden, glücklich sein, trauern dürfen. Überall sonst auf der Welt regiert die künstliche Intelligenz, die Datenbubble «Ishiguro». Dort sind alle Gedanken, Erlebnisse, alles was gesehen, gehört oder gerochen wird, das Bewusstsein eines Wesens – schlicht alles, was einen Menschen oder Halbmenschen eben ausmacht – gespeichert und für alle anderen zugänglich. Als Datenbank. Und als kollektives Gedächtnis.

Eine absolut optimierte Gesellschaft, unverletzlich, unzerstörbar, fast unsterblich. Krankheiten gibt es nicht mehr. Alter auch nicht. Wurde alles längst optimiert. Neugeboren werden nur so viele, wie im Vorjahr durch Optimierung oder Unfall gestorben waren. Wenn ein Wesen fehlerhaft ist, wird er kurzerhand angedockt und ausgeschalten. Egal. In zweiundzwanzig Jahren, nach der Brutzeit, kommt sein Bewusstsein wieder. Repliziert. Einfach in anderer äusserer Form. Als Humanoid beispielsweise, wie der Direktor der Reproduktionsstätte. Er war mal Mensch. Doch seine Hülle, die blubbert irgendwo in einer Flüssigkeit, angedockt an das Netzwerk. Was er selber ist, seine Gedanken, sein Bewusstsein, gespeichert in einer Cloud, das ist für unsereins kaum fassbar. Er ist eben eine Menschmaschine. Oder?

Dilemma!
Drei Jahre recherchierte und schrieb Schwabenland an diesem Stück. Reiste nach Japan, sprach da mit Technikforschern. Robotologen. Diskutierte mit Philosophen ethische, moralische Nuancen. Erfand eine Geschichte und Figuren, die er auf die Theaterbühne bringen kann. Nun ist er und seine Truppe in der letzten Vorbereitungswoche. Das Zukunftslabor in hellweiss, grosse Leinwand, runterhängende Schläuche, futuristische Kostüme und Avatar-Puppen – es sieht skurril aus. Auch etwas befremdend.

«Natürlich ist es verlockend, wenn man auf Knopfdruck die Sprungkraft verbessern könnte.» Milva Stark lacht. Die Schauspielerin ist «Johanna», eine nicht optimierte junge Frau aus Stano. Verlockend, ja. Doch schätzt sie eben gerade die Vielfalt unserer Unterschiede. «Die Thematik ist brandaktuell. Wird alles wegoptimiert, ist die Welt weniger bunt. Das würde ich vermissen.» – «Und die Gefühle», so ihre Kollegin Anna-Katharina Müller, die ausgerechnet den an seinem Fehler «Gefühl» aussortierten Kurzweil verkörpert. Schon ist sie in einem der Dilemmata gefangen, die «Brave New Life» hervorrufen: Zwar wäre da das perfekte ewige Leben, durchoptimiert, «doch ist ja genau das Leben, was das Leben ausmacht. Ohne Leben müsste man ja gar nicht mehr leben.» – «Denn glücklich ist man ja auch nur, wenn man nicht immer glücklich ist», ergänzt Stark. Und Schwabenland schliesst: «Wenn am Ende des Stückes die Zuschauer sich genau diese Fragen stellen und diese Diskussion führen, dann, dann haben wir erreicht, was wir wollten.»

Stichwörter: Theater, Kunst, Kultur, Biel

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