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Gegen diesen Krimi kann Netflix einpacken

Zwei Kinder sind tot. Hauptverdächtiger ist der Vater. Aber war er es wirklich? Die 48-jährige Bernerin Christine Brand erzählt mitreissend einen realen Fall nach.

Die Berner Bestsellerautorin Christine Brand legt mit "Bis er gesteht" ein Krimi-Meisterwerk vor. Bild: Boris Müller

Mirjam Comtesse

So wie dieses Buch beginnen normalerweise True-Crime-Serien – mit dem Protokoll eines Notrufs. Am 25. Dezember morgens um 3.31 Uhr meldet sich ein Vater bei der Polizei und sagt einen Satz, der wegen seiner simplen Feststellung umso erschreckender ist: «Bei uns sind beide Kinder umgebracht worden.» Das Gespräch gab es so tatsächlich: In Zürich wurden 2007 zwei achtjährige Zwillinge im Schlaf erstickt.

Christine Brand berichtete damals als Gerichtsreporterin über den Doppelmord. «Die Aufnahme des Telefonats, in dem der Vater die Polizei um Hilfe rief, nachdem er seine beiden Kinder getötet aufgefunden hatte, lief im Gerichtssaal vom Tonband», schreibt die Autorin im Nachwort zu ihrem gerade erschienenen Krimi «Bis er gesteht».

Sie erzählt in Form von Augenzeugenberichten, polizeilichen Befragungen und psychiatrischen Einschätzungen nach, wie man den Täter schliesslich überführen konnte. Zwar richtete sich der Verdacht ziemlich schnell gegen den Vater. Denn statistisch betrachtet war er der wahrscheinlichste Täter: «Väter töten Kinder aus Rache an der Frau, aus einer Verlustangst heraus, oft vor Trennungssituationen», lässt Christine Brand im Buch eine polizeiliche Sachbearbeiterin erklären.

Doch eindeutige Beweise fehlen. Und der Vater, im Roman heisst er Bernhard Scherrer, weigert sich strikt, zu gestehen. In den geschilderten Befragungen, die in der Realität ähnlich abgelaufen sein dürften, ist er zugeknöpft und genervt, die Polizistin äusserst misstrauisch.

Spezialistin für 
Polizeiarbeit

Christine Brand hat aber nicht einfach Protokolle aneinandergereiht, sondern ein literarisches Kammerspiel verfasst. Und dieses entwickelt vom ersten Satz an einen solch gewaltigen Sog, dass es mit jeder Netflix-Serie mithalten kann. Wer anfängt zu lesen, wird zum «Binge-Reader» werden.

Das liegt nicht nur daran, dass die Leserinnen und Leser wissen, dass es ein solches Verbrechen tatsächlich gab. Und es ist auch nicht damit zu erklären, dass der Fall besonders grausam ist, weil Kinder die Opfer sind. Nein, Christine Brand hat die Berichte zudem literarisch so verarbeitet und zusammengestellt, dass man das Gefühl hat, live bei der Aufarbeitung des Falls dabei zu sein.

Sie schreibt und schreibt und schreibt

Wie eine Polizeibeamtin sieht man zuerst die Indizien, erfährt dann, was deren Analyse ergab, und kann dadurch nach und nach ein Puzzleteil an das andere legen. So erfährt man im Buch etwa, wieso beim Bub die Totenstarre deutlich weiter fortgeschritten ist als beim Mädchen: Er muss sich stärker gewehrt haben. «Weil Noah durch einen Kampf bereits alle Muskelenergie verbraucht hatte, trat die Totenstarre schneller ein.» Mit dem Todeszeitpunkt hat es also nichts zu tun. Auf diese Weise wird das Buch nebenbei zum Lehrstück in Sachen Polizeiarbeit. Als ehemalige Gerichtsreporterin kennt die Schriftstellerin diese Welt aus dem Effeff. Und genau das macht ihre Kriminalromane besonders lesenswert. Ihr Buch «Blind» zum Beispiel, das 2019 erschien, und in dem ganz unkonventionell ein Blinder die Detektivarbeit übernimmt, schaffte es in kurzer Zeit auf die Bestsellerlisten. Das Gleiche galt für den zweiten («Die Patientin») und den dritten Nachfolgeroman («Der Bruder»).

Auch in diesen Krimis verfremdete Christine Brand echte Verbrechen. Nathaniel ist einem Mann nachempfunden, der bei einem Familiendrama sein Augenlicht verlor. Und «Der Bruder», der im Frühling dieses Jahres in die Läden kam, machte die Kindesentführungen in den 1980er-Jahren zum Thema, welche die ganze Schweiz in Aufregung versetzten.

Das nächste Buch, das für diesen Herbst geplant ist, nimmt für einmal bekannte Fälle ins Visier, ohne sie zu verfremden. Es heisst «Wahre Verbrechen» und enthält die journalistische Aufarbeitung sechs grosser Schweizer Kriminalfälle. Dazu gehört etwa der Vierfachmord in Rupperswil von 2015.

Woher kommt die Schreibwut? «Das hat einen finanziellen Hintergrund», erklärte die 48-Jährige kürzlich im Interview mit den Tamedia-Medien. «Viele meiner Lesungen wurden wegen Corona abgesagt. Um trotzdem Geld zu verdienen, schreibe ich jetzt halt mehr.» Sie lebt den grössten Teil des Jahres auf Sansibar, dort entstehen ihre Bücher. «Die Ideen gehen mir nicht aus», verspricht sie. «Die Arbeit auch nicht.»

Stichwörter: Literatur, Roman, Krimi

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