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Todestag

Genau hinschauen zum halben Mond

Sein mehrfach vertontes Gedicht «Abendlied», beginnend mit «Der Mond ist aufgegangen, …», hat Matthias Claudius unsterblich gemacht. Sein 200. Todestag heute gibt Gelegenheit, daran zu denken.

Rund und schön? In den Worten von Matthias Claudius liegt eine tiefe Weisheit, Bild: Keystone

Von Christophe Pochon

Zumindest in der Mitte des 20. Jahrhunderts war Matthias Claudius noch eine frühe Erfahrung einer Kindheit. Namentlich durch sein «Abendlied» mit dem berühmten Anfang «Der Mond ist aufgegangen, / Die goldnen Sternlein prangen / Am Himmel hell und klar; …».

Komponisten und Musiker wie Johann Abraham Peter Schulz oder Franz Schubert haben das «Abendlied» vertont, gesungen wurde es von Generationen von Buben und Mädchen schon in der Familie oder später in der Schule, und die Melodie blieb haften bis ins Erwachsenenalter.
 
Zuckende Zeit
Das «Abendlied» zeugt für Matthias Claudius, der heute vor zweihundert Jahren, am 21. Januar 1815, in Wandsbek bei Hamburg für immer die Augen schloss. Sein Todestag fiel in eine Zeit, die 2015 ebenfalls zum Gedenken Anlass gibt: Am Wiener Kongress 1814/1815 versuchten die in Europa tonangebenden Mächte, den Kontinent neu zu ordnen, in dem zu Lebzeiten von Claudius alte Ordnungen zusammengebrochen waren und ein Mann wie ein Erdbeben die Länder durchgeschüttelt, durcheinander gewirbelt und das Unterste zuoberst gekehrt hatte.

Die Französische Revolution von 1789 und die Kaiserzeit von Napoleon betrafen Paläste und Hütten, Gekrönte und Untertanen. Überfluss auf der einen Seite und schiere Not auf der andern, Aufklärung gegen Absolutismus und Gottesgnadentum waren der Auslöser für die Revolution, für deren Losungsworte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zwar Ströme von Blut vergossen wurden, aber damit doch der Grundstein gelegt wurde für den demokratisch-freiheitlichen Rechtsstaat und die Verwirklichung der Menschenrechte. Die zwischen 1789 und 1815 mächtigen Männer sind ins Dunkel der Geschichte gesunken, der «kleine Mann» Matthias Claudius verkündet mit dem «Abendlied» anhaltend gültige Werte. Das ist tröstlich.
 
Wuchtige Bilder
Gewiss, die «Sternlein», die da «prangen», wirken verniedlichend, aber in dieser Verkleinerung sehr kindgerecht; den Jüngsten kommen die Leuchtpunkte am Himmel damit nahe, sie werden ihnen vertraut. Und dann folgen bis heute, auch für die Grossen, wuchtige Bilder der Natur, die, je nach Wetterlage, bei einer Vorbeifahrt in der Landschaft oder auf einer Wanderung immer noch zu beobachten sind: «… / Der Wald steht schwarz und schweiget, / Und aus den Wiesen steiget / Der weisse Nebel wunderbar. …»

Das ist romantisch, zauberhaft. Aber in der Nacht ist der Wald auch eine dunkle, kompakte und eher abweisende bis bedrohliche Masse, nicht genau abzuschätzen; in der Nacht verwischt der Nebel Konturen, verfremdet eine Gegend, desorientiert. Ob der Verfasser beabsichtigte, dass der Leser bei diesem zweiten Teil der ersten Strophe eine Kehrseite erblickt? Man weiss es nicht. Aber Matthias Claudius beschreibt in seinem «Abendlied» durchaus keine heile Welt. An anderen Stellen benennt er Gefährdungen des Menschen wie Krankheit und Ungeborgenheit, aber auch Eitelkeit, Stolz und Vermessenheit.

Und wie rasch doch (vorver)urteilen wir andere aufgrund von Trugschlüssen und Täuschungsmanövern. Wir unterlassen es, genauer hinzuschauen, versteckte Werte eines Menschen zu entdecken, ein Ganzes sehen zu wollen und sich dafür auch in Geduld zu üben. Gerade deswegen beschwört Claudius in der dritten Strophe noch einmal den Mond. «Seht ihr den Mond dort stehen? - / Er ist nur halb zu sehen, / Und ist doch rund und schön! / So sind wohl manche Sachen, / Die wir getrost belachen, / Weil unsre Augen sie nicht sehn. …»

Der Dichter weiss um die Anfechtungen in diesem Leben, vertraut aber dessen ungeachtet auf einen freundlichen Gott und einen Übergang in sein Reich durch einen sanften Tod. Es ist die Schlichtheit seiner Worte, die besticht. Auch wer zweifelt oder nicht glauben kann, dürfte beeindruckt sein von Claudius’ unbeirrter Hoffnung und Zuversicht und sich irgendwie gestärkt fühlen.

Von Wahrheit und Kartoffeln
Geboren am 15. August 1740 im holsteinischen Reinfeld, erfuhr Claudius selber materielle Not und Heimsuchung und erkannte durchaus die Ausbeutung anderer. Sein Wegweiser war aber stets die christliche Religion, nicht die Französische Revolution. Die Lyrik stand im Vordergrund seines Schaffens. Gegenwärtig hochaktuell ist «Ein Lied hinterm Ofen zu singen»: «Der Winter ist ein rechter Mann, / Kernfest und auf die Dauer; ...».

Überdauert hat auch Prosa von ihm wie etwa der Brief «An meinen Sohn Johannes» mit Grund-Sätzen wie: «Die Wahrheit richtet sich nicht nach uns, lieber Sohn, sondern wir müssen uns nach ihr richten.» Oder: «Sage nicht alles, was du weisst, aber wisse immer, was du sagest.» Schliesslich: «Hänge dich an keinen Grossen.»

Sein Loblied auf die Kartoffeln stand seinerzeit im Lesebuch der Schule. «… / Sie däu’n» (verdauen) «sich lieblich und geschwind / Und sind für Mann und Frau und Kind / Ein rechtes Magenpflaster.» Ein bekömmliches Gericht –  dank diesem bekömmlichen Gedicht begriff dies 1957 schon ein Zehnjähriger.

Für den, mittlerweile bald 58 Jahre älter, ist es eine ausgemachte Sache: Heute Abend gibt es zu Ehren von Matthias Claudius Gschwellti.
 

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