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Bieler Fototage

Hinter himmelblauen Gitterstäben

Worauf richtet sich der Blick eines Häftlings, der 22 Stunden pro Tag in einer Zelle verbringt? Und wie hält er seinen Alltag fotografisch fest? Ein Kunstvermittlungsprojekt der Bieler Fototage im Regionalgefängnis Biel gibt Antworten.

  • 1/12 Im Workshop "Création d'espaces photographiques" entstandene Arbeit. Bilder: zvg
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Umfrage

Ist ein solcher Workshop sinnvoll für die Resozialisierung der Gefangenen?




Simone Tanner

 

«Kunst ist die Tochter der Freiheit.»

Friedrich Schiller

 

Ein Bett, eine Toilette, ein Lavabo, ein Regal, Tisch und Stuhl sowie ein Fernseher stehen in den acht Quadratmeter grossen Zellen, sonst nichts. Durch ein Fensterchen sieht man zwischen den Gitterstäben hindurch ein kleines Stückchen Himmel. 22 Stunden pro Tag verbringen die Häftlinge des Regionalgefängnisses Biel in ihrer Zelle. Die meisten der Insassen befinden sich in Untersuchungshaft. Sie warten. Auf einen Termin mit dem Anwalt, auf die Gerichtsverhandlung, auf Besuch, den sie einmal pro Woche für eine Stunde empfangen dürfen, oder sie warten einfach darauf, dass die Zeit verstreicht. Arbeiten dürfen die meisten nicht. (Siehe auch Interview unten mit Gefängnisdirektor Bruno Graf.) «Wir sind um jede Beschäftigung froh», sagt einer der Häftlinge* stellvertretend für alle. So ist denn auch der Foto-Workshop, der im Rahmen der Bieler Fototage durchgeführt wird, eine willkommene Abwechslung zum Zellenalltag.

 

Aussen und Innen im Dialog

Heute sitzen die fünf Workshop-Teilnehmer mit den beiden Kunstvermittlerinnen Rebekka Schraner und Julie Dorner sowie der Künstlerin Claudia Breitschmid in einem Sitzungszimmer, bewacht von einer Aufsichtsperson. Sie sehen sich die entstandenen Bilder an. Unsicherheit auf beiden Seiten des langen Tisches. Die Situation ist für alle ungewohnt. Mit Häftlingen haben die Kunstvermittlerinnen im Rahmen der Fototage noch nie gearbeitet. Diesmal wollen sie eine andere Zielgruppe erreichen.

«Das Festival ist so nah beim Regionalgefängnis und dringt dennoch nicht hinein. Und umgekehrt kriegt man draussen keine Bilder von drinnen zu sehen», erklärt Rebekka Schraner. Sie spricht auch von einem Dialog zwischen Aussen und Innen und einer fotografischen Auseinandersetzung der Männer mit ihrem Gefängnisalltag und ihrer Geschichte.

«Für die meisten ist das Fotografieren einzig ein Mittel, die Erinnerung festzuhalten. Wir möchten bei ihnen ein Bewusstsein für die Fotografie wecken, sie dazu bringen, eine eigene Bildsprache zu finden», so Schraner.

 

Bilder handeln von Sehnsucht

Doch worauf richtet sich der Blick eines Fotografierenden, wenn es nicht viel gibt, worauf er ihn richten kann?

Viele Bilder handeln von Sehnsüchten, von der Flucht in Gedanken. Fast alle Häftlinge haben auf einem der Freigänge im Hof den Himmel fotografiert, auf einigen Fotos sieht man noch einen Teil des Stacheldrahtes. Viele haben das wenige, was von der Welt hineindringt, festgehalten, indem sie den Fernsehbildschirm oder Zeitungsbilder ablichteten. Für einen der Männer wurde die Kaffeetasse zum Universum, die Blasen im Kaffee zu Planeten.

Während die einen ihren Gefängnisalltag nüchtern dokumentieren, werden andere kreativ, inszenieren. Ein Workshop-Teilnehmer hat aus einer Zeitung eine Leiter aus Papiermännchen herausgerissen, sie draussen an die Gitterstäbe gehängt und fotografiert. Derselbe hat seine Jeans mit T-Shirts ausgestopft und sie so am Fenster befestigt, dass es aussieht, als ob er Reissaus nehmen würde. Seine Kollegen lachen. «Wir sind in einer Lage, die selten ein Künstler für sich in Anspruch nehmen kann», sagt ein etwas älterer Häftling und schmunzelt. Man weiss nicht genau, ob es Selbstironie ist, oder ob er sich ein wenig lustig macht über die drei Frauen auf der anderen Seite des Tisches.

 

Sinn für Details schärfen

Die Situation der Gefangenschaft und der Blick druch die Kamera schärfen bei manchen auch den Sinn für Details. Dieses Engwerden des Blicks in der Enge widerspiegelt sich in vielen Gross- und Detailaufnahmen. So konzentrieren sich manche nur auf Oberflächen, Strukturen, das Licht. Und Ping-Pong-Bälle werden plötzlich zu riesigen, weissen Kugeln, Alltagsgegenstände zu abstrakten Gebilden, die Suche nach einem guten Bild zur Suche nach dem Schönen. «Ich habe versucht, mich auf das Ästhetische zu konzentrieren», sagt ein junger Häftling, «es ist mir darum gegangen, die Gegenstände so aussehen zu lassen wie etwas, das man nicht jeden Tag sieht. Ich wollte, dass es schön aussieht.» Derselbe Mann hat auch mit der Belichtungszeit experimentiert und sagt, er nehme ein neues Hobby mit nach draussen.

 

Zensur durch den Direktor

Aus den Workshop-Teilnehmern grosse Fotografen zu machen, ist nicht die Intention, und auch gar nicht möglich in ein paar Wochen. Die Kunstvermittlerinnen sind zufrieden. «Jeder hat einen Weg gefunden, sich mitzuteilen, und ihr Blick hat sich durch das Medium Fotografie verändert», sagt Schraner. «Mich hat die grosse Bereitschaft der Männer, sich darauf einzulassen, überrascht und berührt», ergänzt Breitschmid.

Weniger erfreut sind die drei Workshop-Leiterinnen über jenen Teil, der jetzt folgt: die Zensur. «Dieses muss weg, das auch», sagt Gefängnisleiter Bruno Graf, ruhig, aber bestimmt. Die Frauen diskutieren über jede Fotografie. Graf bleibt streng: «Wer ihn kennt, erkennt ihn.» Bilder, auf denen Personen identifiziert werden können, dürfen nicht nach draussen gelangen. Aus Datenschutzgründen, wie Graf erklärt. Auch Schrift duldet er nicht. Zu gross ist die Gefahr oder die Angst vor versteckten Botschaften und Identifikationsmöglichkeiten der Insassen. Breitschmid drückt enttäuscht die Delete-Taste.

Alle andern Bilder, die die Zensur überstehen, werden in zwei Wochen im Rahmen der Bieler Fototage ausgestellt. In Abwesenheit der Künstler. Diese werden von ihrer Kunst, der Tochter der Freiheit, in der Zeitung lesen.

 

* Die Namen der Häftlinge sowie Informationen zu ihren Delikten dürfen aus Datenschutzgründen nicht an die Öffentlichkeit gelangen.


 

«Der Workshop ist Teil der Resozialisierung»

Interview: Simone Tanner

Für Bruno Graf, den Leiter des Regionalgefängnisses Biel, ist der Workshop eine sinnvolle Beschäftigung für die Insassen. Und Teil der Resozialisierung.

Herr Graf, weshalb haben Sie die Einwilligung in dieses Projekt gegeben?

Bruno Graf: Es ist eine Gelegenheit, den Leuten draussen zu zeigen, was hier drinnen passiert. Zudem sind unsere Möglichkeiten aufgrund der prekären Platzverhältnisse und des schlechten Zustands des Gebäudes sehr beschränkt. ( Das BT berichtete, Anm. d. Red .) Wir können den Insassen zum Beispiel keine Arbeitsprogramme anbieten, wie in Burgdorf oder Bern. Mit der Teilnahme am Workshop haben die Häftlinge eine Aufgabe.

Aber die Leute sind ja aus einem guten Grund im Gefängnis. Widerspricht die Teilnahme am Workshop nicht der Idee der Strafe?

Nein. Ich sehe das überhaupt nicht als Belohnung oder Ähnliches. Im Workshop müssen die Häftlinge in der Gruppe funktionieren, Regeln befolgen. Es ist Teil der Resozialisierung. Aber auch Beschäftigungsprogramm, nicht zuletzt, um psychischen Druck abzubauen. Denn die Häftlinge verbringen 22 Stunden pro Tag in ihrer Zelle.

Haben auch Schwerverbrecher am Workshop teilgenommen?

Nein, die Leute, die dafür ausgewählt wurden, gehören zu den «leichteren Fällen». Es sind zudem Männer, die kooperieren und sich gut betragen. Aber über die Delikte darf ich keine Informationen rausgeben.

Ist der Workshop nicht ein Sicherheitsrisiko?

Nein. Während des Workshops ist natürlich immer eine Aufsichtsperson dabei.

Hatten Sie schon einmal Angst im Laufe Ihrer Zeit als Gefängnisleiter?

Ja. Wer im Gefängnis arbeitet und sagt, er habe noch nie Angst gehabt, der lügt. Ich hatte schon oft ein mulmiges Gefühl.

Wie verhalten Sie sich in einem solchen Fall?

Zu gefährlichen Häftlingen gehen wir nur zu zweit in die Zelle.

Ist Ihnen schon einmal etwas passiert?

(schmunzelt) Ja, einmal hat mir ein Insasse einen Milchbeutel angeworfen. Danach war ich voller Milch. Aber die verbalen Aggressionen sind viel zahlreicher als die physischen. Wir müssen uns viel anhören.

Was passiert mit solchen Insassen?

Eine mögliche Sanktion ist das Verlegen in die Sicherheitszelle. Dort hat es nichts als ein Bett. Sie dürfen nicht rauchen, nicht fernsehen und haben auch überhaupt keinen Kontakt zu Mitinsassen. Und meist merken die Leute von alleine, dass sie besser mit uns kooperieren.

Wie stecken Sie solche Beschimpfungen und alles andere weg?

Man braucht einen Ausgleich neben der Arbeit. Bei mir ist dies das Auto und der Sport. Wir haben aber auch die Möglichkeit, den psychologischen Dienst der Kantonspolizei in Anspruch zu nehmen.

Gefängnisdirektor ist aber nicht unbedingt ein Traumberuf. Weshalb sind Sie es dennoch geworden?

Als ich vor 21 Jahren im Gefängnis angefangen habe, hätte ich das nicht gedacht. Aber nach zwei Jahren war ich immer noch da und blieb.

Was gefällt Ihnen am Beruf?

Kein Tag ist gleich wie der andere. Und ich mag die Arbeit mit Menschen. Man muss es schon gut haben mit Menschen, um diesen Job zu machen. Und das Schönste ist, wenn man Erfolge seiner Arbeit sieht. Kürzlich habe ich einen ehemaligen Insassen getroffen, der früher drogenabhängig war. Heute ist er clean und hat sein Leben in den Griff gekriegt. Das macht einen stolz. Solche Erfolge tun gut.

Aber Sie haben ja zum Beispiel auch mit Vergewaltigern zu tun?

Das Delikt ist nicht massgebend. Was zählt, ist der Mensch. Man hat gar keine Zeit, am Delikt herumzustudieren. Wir sind genug professionell, das auszuklammern. Hier drin gilt für alle die gleich harte Linie.

Welche Eigenschaften braucht man, um im Gefängnis arbeiten zu können?

Nebst der Menschenliebe, einer abgeschlossenen Berufslehre und reichlich Lebenserfahrung braucht es sicher eine grosse Belastbarkeit, Verschwiegenheit und Unvoreingenommenheit. Und man muss mit beiden Füssen auf dem Boden stehen.

 

Bieler Fototage 2013

 

Vernissage: Freitag, 6. September, 18 Uhr, im Photoforum Pasquart. Dauer: vom 6. bis 29. September in diversen Ausstellungsräumen in Biel und Nidau.

• Ausstellung der Bilder, die während des Workshops im Regionalgefängnis entstanden sind, in der Art Etage. Öffentliche Projektpräsentation mit Führung: Donnerstag, 19. September, 19 Uhr.

 

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