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Musik

«Ich will, dass Überraschendes 
entstehen kann»

Der Bieler Cellist Martin Schütz hat sein eigenes Label gegründet und präsentiert mit «Strangers In My Mind» von Mr. Schuetz & The Paradox gleich auch die erste Veröffentlichung.

Facettenreich und Grenzen sprengend: Martin Schütz. Bild: Peter Samuel Jaggi

Rudolf Amstutz

Und dann klingt es plötzlich, als wäre Jimi Hendrix auferstanden und lehne sich laut heulend auf gegen den Wohlklang, das Normierte – gegen die existenzielle Langeweile. Der Song heisst «Shipwrecks of our Understanding» und statt Hendrix an der Gitarre ist da Martin Schütz am elektrischen Cello zu hören. Jetzt sitzt er in seiner Wohnung, die auch Studio und neuerdings Heim seines eigenen Plattenlabels ist. Musicfromthe12thfloor heisst es und ist wörtlich gemeint: Zwölf Stockwerke hoch über Biel mit Sicht über den Bahnhof hinweg auf den Bielersee. «Ich komme aus einer Familie, in der nur klassische Musik existierte. Wir alle spielten ein Instrument und jeden Sonntag gab es Hausmusik. Als ich mit 14 mit Freunden das Geld zusammenlegte, um ein Hendrix-Album zu kaufen, war das ein unglaublicher Moment, in dem sich die Türen weit öffneten», erzählt er.

 

Mit Einflüssen jonglieren
Der Bieler Musiker hat mit «Strangers In My Mind» ein Album gemacht, auf dem er bewusst mit den Einflüssen, die sich über die Jahre im Kopf angesammelt haben, jongliert. Für Jahrzehnte hat er im Trio Koch-Schütz-Studer mit Sounds experimentiert, den Klang in immer neuen Perspektiven erforscht und dabei die Hörgrenzen erweitert – für sich und das Publikum.

Doch «Strangers In My Mind» ist mehr als eine Weiterführung dieses einen Weges. Schütz gehört seit Jahren zu den gefragtesten Komponisten für Theater- und Hörspielproduktionen. An den Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten, dort, wo sich Musik und Text im Zusammenspiel vereinen, da fühlt er sich wohl.

Auch deshalb hört man ihn auf der neuen Platte erstmals singen. «Strangers In My Mind», die Fremden im Kopf, das sind nicht nur die klassischen Komponisten, die ihn seit seiner Ausbildung begleiten. Nicht nur Hendrix oder Cecil Taylor oder die grossen Wortzauberer des Hip-Hop, von denen er gerne schwärmt, sondern auch die literarischen Worte, die sich im Laufe eines Lebens im Kopf eines neugierigen, immer wieder staunenden Lesers festsetzen. Schütz hat für die Songs Texte von Fernando Pessoa, William Shakespeare, Patricia Highsmith oder Bertrand Cantat adaptiert und in die endlosen Weiten seines stilistischen Horizontes eingebettet.

Vertont hat er diese klingenden Geschichten mit seiner Formation Mr. Schuetz & The Paradox, die erstmals vor sechs Jahren zusammenfand. «Der Pod’Ring gab mir drei Abende eine Carte blanche im Théâtre de Poche, was mir die Gelegenheit eröffnete, mit einer Formation an einigen Songs zu arbeiten, die ich damals schon eine ganze Weile mit mir rumtrug.» Für Schütz war schnell klar, wer bei The Paradox mittun sollte: «Mit den Schlagzeugern Tobi Schramm und Beni06 Weber arbeitete ich schon erfolgreich fürs Theater zusammen, Mats Kolb am Bass sorgt für das Fundament und Andi Marti wollte ich dabei haben, weil ich seine fragmentierte melodische Begabung schätze. Zudem liebe ich das Dunkle im Sound der Posaune», sagt Schütz und fügt dann schmunzelnd an: «Eigentlich haben wir alle dunkle Instrumente – ausser, wenn Beni die Farfisa bedient.»

Was nicht heisst, dass die tragende Melancholie des Albums sich der Hoffnung verweigern würde. Im Gegenteil: «Strangers In My Mind» ist ein facettenreiches und Grenzen sprengendes Statement dafür, sich gegenüber dem Ungewohnten zu öffnen. «Die Songs basieren eigentlich auf einfachen musikalischen Grundkonzeptionen. Es ist wichtig, dass die Band die Richtung schnell erfassen kann und in der Folge den Kopf nicht mehr benötigt. Ich will, dass man sich gehen lassen kann. Nur so kann überhaupt Überraschendes entstehen. Als Hörer will ich doch auch eine progressive, innovative Musik hören, die mich an einen Ort transportiert, an dem ich vielleicht die Welt in der wir uns befinden, etwas besser durchschauen kann.»

 

Im Keller der Erinnerungen
In seiner Wohnung finden sich kaum Platten, längst hat der Vielreisende seine musikalische Sammlung digitalisiert. «Deshalb stellte ich mir auch die Frage: Will ich überhaupt eine CD herausgeben?» Für einen, der bevorzugt in den brachliegenden Räumen zwischen den Genres musikalisch lustwandelt, wäre es zudem mühsam, für zukünftige Projekte jeweils nach dem passenden Label zu suchen. «Weshalb also nicht ein eigenes Label gründen, das in Zukunft dann als Plattform dienen kann, auf der ich ganz spontan veröffentlichen kann?»

Gesagt, getan. «Strangers In My Mind» ist rein digital erhältlich, dies allerdings in allen gängigen Formaten und inklusive üppigem Booklet, sorgfältig gestaltet von Clarissa Herbst, mit Malereien von Beni06 Weber und konsequenterweise auch mit Scans von Schütz’s Gehirn, die auf medizinische Art und Weise den Ursprung der Kreativität visualisieren.

Bei musicfromthe12thfloor geht es allerdings um mehr als um die Möglichkeit, sich unabhängig von Ort und Zeit künstlerisch auszudrücken. «Ich habe mich immer genervt, wenn ich in einem Plattenladen ein Album von Koch-Schütz-Studer gesehen habe, das 32 Franken kostete, wir aber nach allen Abzügen bloss einen einzigen Franken für uns drei erhielten. Als Musiker ist man der Content-Lieferant und dafür investieren wir unglaublich viel Zeit und Geld. Doch am Ende bleibt für uns nichts mehr übrig».

Solches soll in Zukunft vermieden werden. «Ich stecke fest im Keller meiner Erinnerungen», singt er in der Ballade «The Basement of my Memories». Nun erstrahlt dieser Keller für alle hörbar aus dem zwölften Stock. Und darauf angesprochen, was in Zukunft geplant ist, schmunzelt Schütz vielsagend. Man darf sich freuen.

Info: «Strangers In My Mind» ist erhältlich
via musicfromthe12thfloor.com und kostet 
12 Franken.

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