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Biel

Im Land der unerhörten Klänge

An drei Abenden spielt das prominent besetzte Joyful Noise Orchestra im Le Singe fürneugierige Ohren. Denn was sie da liefern, entspricht nicht der Norm.

Sie sind zu zwanzigst. Und jede Probe, jede Aufführung klingt anders, Bild: zvg
  • Dossier
Rudolf Amstutz
 
Wie heisst es so schön: Wer wagt, gewinnt. Diese altbekannte Weisheit kann von allen unterschrieben werden, die jemals eines der Konzerte des Joyful Noise Orchestra besucht hat. Alle zwei Jahre trifft sich ein 20-köpfiges Ensemble in wechselnder Besetzung an drei Abenden, um zu musizieren. Dabei werden keine Werke aufgeführt, keine eingespielten Variationen durchexerziert oder nach im Vorfeld abgesprochenen Regeln gespielt. Nein, der Name des Joyful Noise Orchestra ist Programm: Es wird freudvoll gelärmt – wobei Noise nicht etwa kakafonisch gemeint ist, sondern eher als Verleugnung gängiger Regeln verstanden werden sollte. 
 
Geführt wird diese aus Menschen bestehende Skulptur von den beiden Gründern des Projektes – beides Bieler, beide international renommierte Vertreter der improvisierten Musik: Saxophonist und Klarinettist Hans Koch und Cellist Martin Schütz. Das Wort «Dirigent» mögen sie beide nicht, da der Begriff zu eng mit notierter Musik in Verbindung gebracht wird. Sie stehen vielmehr in der Tradition des 2013 verstorbenen US-Amerikaners Butch Morris, der als einer der Urväter der «Conduction» gilt, einer Art der strukturierten freien Improvisation, bei der die Musikerinnen und Musiker mit einer Reihe von Hand- und Taktstockgesten angeleitet werden.
 
Am Anfang war … New York
Das Joyful Noise Orchestra hat eine lange Geschichte und im Grunde beginnt diese in New York. Schütz und Koch verbrachten 1987 zusammen ein halbes Jahr in der Musikmetropole, jammten und improvisierten mit den Grössen der schillernden Downtown-Szene. Freundschaften entstanden und Ideen wurden geboren. «Als wir dann zurück nach Biel kamen, erschien uns unsere Stadt wie eine musikalische Ödnis», schmunzelt Schütz heute. Und so begannen die beiden eine wöchentlich stattfindende Konzertreihe unter dem vielversprechenden Titel «Joyful Noise». «Wir improvisierten damals im Ring 14 später im Théâtre de Poche und im «Chessu» mit wechselnden Gästen», erklärt Koch, «darunter grosse Namen wie Werner Lüdi, Paul Lovens oder David Moss.» 
 
Die Formationen, die Koch und Schütz auf die Beine stellten, wurden im Laufe der Zeit immer grösser. Ihre New Yorker Zusammenarbeit mit dem umtriebigen Butch Morris, dessen Vision, Charisma, Charme und Witz, beide schmerzlichst vermissen, führte letztlich zu einer ersten Grossformation im Rennweg, die von Morris selbst und vom Chicagoer Gitarristen Jim O’Rourke (ex-Sonic Youth) geleitet wurde.
 
Seitdem findet das Joyful Noise Orchestra alle zwei Jahre statt und stets während dreier Tage. «Ziel ist es», so Koch, «die Vielfalt der Bieler Musikszene auf ungewöhnliche Art und Weise abzubilden.» Auch heuer besteht die Mehrheit des Orchesters aus Bieler Protagonist:innen und – wie Schütz betont – «haben wir bei der Zusammensetzung auch darauf geachtet, dass der Frauenanteil gestärkt wird. Wir wollten schon lange weg von einer reinen Männergesellschaft, aber das ist leichter gesagt als getan.» «Es ist leider eine Tatsache, dass es in der freien, improvisierenden Szene, immer noch wenig Frauen gibt», gibt Koch zu bedenken.
 
Als Ganzes liest sich die Besetzung des Orchesters wie ein Who-is-who einer Szene, die längst dafür gesorgt hat, dass Biel auf der Weltkarte als innovative, höchst vielfältige und lebendige Musikstadt wahrgenommen wird. Deshalb pilgern auch jedes Jahr Neugierige von nah und fern ins Le Singe, um diesen Klängen zu lauschen, die ohne Netz und doppelten Boden aus dem Nichts entstehen. «Es wäre wünschenswert», so Schütz, «wenn wir mit diesem Projekt auch ein neues Publikum ansprechen könnten. Es braucht nichts weiter als ein offenes Ohr und den Mut, sich auf etwas Unbekanntes einzulassen.»
 
Improvisation ist hohe Kunst und verlangt von den Beteiligten einiges ab. Der Pianist Keith Jarrett hat einmal gesagt, dass er vor seinen Soloimprovisationen stets versucht habe, seinen Kopf von allen vorgefassten Eindrücken zu befreien. Wer durch Improvisation grossartige Musik erklingen lassen will, muss intuitiv aus dem Moment heraus schöpfen können. Im besten Fall schafft es so der kollektive Klangkörper an akustische Orte zu gelangen, die nie ein Mensch zuvor gehört hat. Das Joyful Noise Orchestra hat diese Fähigkeit in der Vergangenheit schon oft bewiesen. Es hat sein Publikum überrascht, berührt und begeistert. «Solche Momente gelingen nur, weil beim Improvisieren auch das Scheitern immer in Betracht gezogen werden muss», mahnt Schütz. Und Koch betont, dass die Entscheidung der Besetzung für einen Erfolg ungemein wichtig ist: «Da wir durch unsere zahlreichen Projekte viele Musikerinnen und Musiker kennen, wissen wir auch ziemlich genau, wer sich für ein solches Unterfangen eignet und wer nicht.»
 
Illustre Besetzung
Die Besetzung kann sich auf jeden Fall sehen und auch hören lassen. Neben Koch und Schütz sind mit Max Usata (Stimme), Sirup Gagavil (Gitarre) und Beni 06 Weber (Farfisa, drum-machine) gleich drei Mitglieder von Puts Marie dabei. Gaudenz Badrutt (electronics) und Christian Müller (electronics, Bassklarinette) wurden heuer für ihr Duo Strøm mit dem Bieler Kulturpreis ausgezeichnet. Lionel Friedli, einer der versiertesten und vielbeschäftigsten Jazzschlagzeuger des Landes, erhielt dieses Jahr einen der Schweizer Musikpreise. Und auch all die anderen lokalen Mitwirkenden des Joyful Noise Orchestra Ausgabe 2021 sind keine Unbekannten: Mats Kolb (E-Bass), Jonas Kocher (Akkordeon), Andi Marti (Posaune), Silber Ingold (Saxophon), Jalalu Kalvert Nelson (Trompete), Estelle Beiner (Viola) und Hannah Walter (Violine). Ergänzt werden sie mit befreundeten Gästen aus Zürich, Basel und Bern, und zwar mit Anna Frey (Stimme), Martina Berther (E-Bass), Tizia Zimmermann (Akkordeon), Silke Strahl (Saxophon), JJ Pedretti (Posaune), Marina Tantanozi (Flöte, electronics) und Miao Zhao (Klarinette).
 
Ein Tipp zum Schluss: Improvisation heisst auch, dass jeder klingende Moment einzigartig ist. Wiederholungen gibt es keine. Deshalb lohnt sich ein Pass für alle drei Tage (50 Franken). Nur wer wagt, gewinnt!
 
Info: Heute sowie Donnerstag und Freitag, 20.30 Uhr, Le Singe, Untergasse 21, Biel. Information und Tickets unter www.kartellculturel.ch
 
 

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