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«Im Libanon gibt es auch viel Poesie»

Stéphanie Saadé ist im Libanon während des Bürgerkrieges aufgewachsen. Derzeit präsentiert sie ihre Kunst in Biel. Wie hat der Krieg ihre Kunst geprägt? Und wo findet Sie, die heute in Paris lebt, ihr Zuhause?

Stéphanie Saadé zeigt ihrem Kind das Werk «Building a Home with Time». copyright: tanja lander/bieler tagblatt
Interview: Helen Lagger
 
Stéphanie Saadé, Sie haben ihre Kindheit und Jugend im Libanon verbracht. Wie hat der Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 Ihre Kunst geprägt?
Stéphanie Saadé: Was ich anhand meiner Kunst mit dem Publikum teilen will, ist keineswegs die Geschichte des Libanons, wie sie sich tatsächlich abgespielt hat. Es geht mir auch nicht darum, meine Kindheit 1:1 nachzuerzählen. Was mich interessiert, sind Parallelen. Die Tatsache, dass die unschuldigste Zeit meines Lebens parallel zu einer sehr konfliktreichen und gewalttätigen Zeit stattgefunden hat, ist für mich interessant. Ich habe im Rückblick sehr viele Emotionen und sehr abstrakte Momente entdeckt, die Kindheit hat mir als Filter gedient. Ich bin während des Krieges allerdings nicht direkt in schwierige Situationen geraten. Wir waren privilegiert.
 
Was ist Ihre Perspektive auf den Konflikt?
Ich präsentiere die Sicht einer Künstlerin aus meiner Generation. Die ältere Generation hat das alles nochmals ganz anders erlebt. Sie waren während des Konflikts bereits junge Erwachsene. Was mich persönlich interessiert, ist es Geschichten anhand meines Werkes zu erzählen. Die Arbeit, die der ganzen Ausstellung den Titel verleiht – «Building a Home with Time» – besteht aus 2832 bemalten Holzperlen. Es ist die Anzahl Tage zwischen meiner Geburt und dem Ende des Bürgerkrieges. Es ist meine abstrakte Art, diese Zeit zu erforschen, ich verzichte bewusst auf Archivmaterial oder Dokumente.
 
Es gibt auch von ihnen als Kind zurückgelegte «Strecken», die sie auf Vorhänge gestickt haben. Was steckt dahinter?
Es gibt drei Ensembles aus Vorhängen, die ich in Biel erstmal vereint habe. Die ersten vier, die man entdeckt, stammen aus meinem Kinderzimmer. Es ist Material, das bereits mit Geschichte aufgeladen ist. Ich habe zwölf Routen darauf gestickt. Es gibt Strecken, die sich wiederholen. Es geht um einen Erinnerungsprozess, um Orte und Menschen, die ich damals besucht habe. So gibt es zum Beispiel die Strecke, die ich zurücklegte, wenn ich zur Schule ging.
 
Sie haben gesagt, Ihre Familie sei privilegiert gewesen. Was bedeutet das genau?
Wir waren privilegiert, weil wir uns schützen konnten. Wir waren nicht in Beirut, unser Haus war in den Bergen. Wir hatten die Möglichkeit, bei ausbrechenden Konflikten in andere Regionen zu übersiedeln. Ich habe das Kriegsgeschehen deshalb nicht unmittelbar erlebt. 
 
Der wahre Grund dieses Konflikts wird bis heute diskutiert. Welche Rolle spielte die Religion? Stammen sie selbst aus einer christlichen oder einer muslimischen Familie?
Dass sind Dinge, die ich nicht thematisiere. Ich sage in meinen Arbeiten ja auch nicht, wo genau im Libanon ich geboren wurde. Diese Identitätsfragen möchte ich umgehen. Man wird in eine Familie hineingeboren und kann sich mit dem jeweiligen Glauben identifizieren oder auch nicht. Ich gehe nicht auf solche Details ein. Ich stelle den Betrachterinnen und Betrachtern eine Erfahrung dieser Periode zur Verfügung, aber ich liefere keine Erklärung zu den Geschehnissen. Ich habe auch keine. 
 
Ist Ihnen die Frage nach der religiösen Zugehörigkeit zu privat?
Nein, nicht zu privat. Aber ich bevorzuge es, sie nicht zu erwähnen, weil im Libanon Identität und auf welcher Seite man steht oder in welcher Partei man ist, stark mit der Religion verbunden ist. 
 
Wie wichtig war Kunst in ihrem Elternhaus?
 Ich stamme nicht aus einer Künstlerfamilie, aber aus einer, die mich auf meinem Weg unterstützt hat. Ich habe sehr viel mit Familienmitgliedern zusammengearbeitet, um Werke zu realisieren. Ich nutze viele Objekte, die aus meinem familiären Umfeld stammen. Um die auf Vorhänge gestickten «Strecken» nachvollziehen zu können, musste ich etwa mit Familienmitgliedern oder ehemaligen Klassenkameraden sprechen. Sie helfen mir alle gerne.
 
Sie haben Kunst in Paris studiert. Wie hat diese Stadt und diese Ausbildung Sie geprägt? 
Ich habe im Libanon angefangen, Kunst zu studieren und bin anschliessend nach Paris gegangen. Zu meiner Zeit war die Hochschule der Kunst im Libanon nicht so gut. In der Zwischenzeit hat sich viel verändert, aber damals gab es im Libanon nicht so viel zu sehen, es gab nicht viele Museen und Galerien. Die Ausbildung im Libanon war eher akademisch, konzentrierte sich auf verschiedene Techniken und weniger auf konzeptionelles Denken. Die erlernten Techniken sind mir zwar heute nützlich, aber ich wollte mehr. Ich habe mich für ein Studium der bildenden Künste in Paris beworben und wurde akzeptiert. Es ist einmalig, wie sehr man der Kunst in Paris ausgesetzt ist. 
 
Gibt es Künstlerinnen und Künstler, die sie speziell beeinflusst haben? Sind Sie Teil einer Gruppe oder Bewegung?
Nein, ich gehörte nie zu einer Gruppe. Aber man kann sagen, dass Marcel Duchamp mich beeinflusst hat. Ich habe mich im Studium während eines Jahres mit ihm beschäftigt und hatte die Gelegenheit, wirklich in sein Werk einzutauchen, es zu verstehen und lieben zu lernen. Ich glaube, Duchamp ist wohl für alle zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstler wichtig. Ich habe einen starken Bezug zur Konzeptkunst oder zur Arte Povera – das sind Bewegungen, die mich berühren.
 
Spielen deshalb Fundgegenstände eine so grosse Rolle in Ihrem Werk?
Nicht, weil ich mich speziell einer Bewegung anschliessen möchte. Aber ich spüre Affinitäten. Wenn man Ideen hat und diese anderswo wiederfindet, freut man sich. 
 
Es gibt ein leicht zerstörtes Bild in der Ausstellung. Was ist mit diesem passiert?
Das Werk heisst «Becoming a Painting, 1950’s - 2019». Der Titel ist wichtig. Es handelt sich nicht um ein Bild, das ich als ein wertvolles Kunstwerk betrachte. Es wird aber immer mehr zum Kunstwerk, je länger ich es in renommierten Museen wie dem Kunsthaus Pasquart zeige. Es ist ein verändertes Ready Made. Das Bild hing im Haus meiner Grosseltern, die in einem Quartier wohnten, wo der Krieg seinen Anfang nahm. Das Bild zeigt eine harmonische, europäische Landschaft mit Häusern, eine angenehme Szene, die man gerne anschaut. Diese Idylle wurde durch die Einschusslöcher gestört. Das Bild hat sich dadurch verändert, ist auf eine andere Art und Weise gealtert. Rund um die Einschusslöcher haben sich kleine Bruchstellen gebildet.
 
Es gibt auch einen grossen Balken aus Holz in der Ausstellung. Ihr Vater hat ihn anscheinend konserviert. Hatte er auch diese Idee, dass man sich anhand von Objekten an seine Vergangenheit erinnern kann?
Es stammt nicht von unserem Haus, aber von einem Haus, das die Familie als Lager benutzt hatte. Als der Krieg ausbrach, wurde dieses Haus zerstört. Es blieb dieser Balken, der ein Teil des Dachgestühls war, übrig. Mein Vater hat ihn zurückerlangt. Der Balken wurde zu einem Zeugen dafür, was passiert war. 
 
Der Titel der Ausstellung lautet «Building a home with time». Was bedeutet das für Sie?
Den Titel habe ich gewählt, weil meine Werke mit den Ereignissen sich ständig verändert haben: Die Revolution vom Oktober 2019, die Wirtschaftskrise, die Entwertung des Geldes, die Explosion vom 4. August 2020 in Beirut, oder global gesehen die Pandemie – das führt dazu, dass man mein Werk nochmals anders liest. Das Verb «Building» evoziert eine Handlung, die ständig weiterläuft. Ich wollte damit ausdrücken, dass ein Zuhause nichts Statisches und Fixes ist. Es ist eher ein Gefühl, an dem man ständig arbeiten muss, um sich daheim zu fühlen. Ich habe mein Land zu Gunsten von Europa verlassen, weil mein Haus durch die Explosion zerstört wurde. Ich bin Teil des Massen-Exodus. 
 
Sie haben von verschiedenen Generationen gesprochen. Was treibt Ihre Generation um?
Viele Künstlerinnen und Künstler sind wie ich in den Libanon zurückgekehrt, nachdem sie im Ausland studiert hatten. Es gab eine inspirierende, aktive Szene, insbesondere in Beirut. Es ist traurig, dass dieser Traum durch die Aktualität zerstört wird, die Vergangenheit uns wieder einholt. Es ist heute wieder sehr schwierig, im Libanon zu leben, es fehlt an allem. 
 
Was bedeutet «Zuhause» für Sie persönlich? Glauben Sie, dass Corona unsere Beziehung zu unseren eigenen vier Wänden verändert hat?
Ja, ich habe das so erlebt. Ich hatte während des Lockdowns in Beirut das Gefühl, dass unsere Häuser uns verschluckt haben und wir alle darauf warteten, dass sie uns später wieder ausspucken. Wir hatten alle anfangs Angst, manche konnten ihre Eltern nicht mehr treffen. Es gab keine öffentlichen Orte mehr, die man aufsuchen konnte. Das Zuhause wog plötzlich sehr schwer. In einem meiner Videos zeige ich auf, dass ein Haar, das ausfällt, plötzlich zum Ereignis wird. Die Explosion, die Beirut traf, hat dann noch einmal alles über den Haufen geworfen. Viele Häuser wurden zerstört. Diese beiden Ereignisse haben sich überschnitten. Es gab wohl dank der Pandemie verhältnismässig wenige Tote, weil nicht viele Leute unterwegs waren. 
 
Diese Explosion war ein Unfall? 
Was genau die Explosion ausgelöst hat, ist ungewiss. Aber es gab einen Lagerraum am Hafen, in dem Feuerwerkskörper gelagert wurden, deren Explosion wiederum daneben gelagerte 2750 Tonnen Ammoniumnitrat zur Explosion brachte. Dieses Material hätte niemals dort liegen dürfen. Es gab, wie es immer der Fall ist im Libanon, viele private Initiativen, weil die Regierung kaum Entschädigungen auszahlte. Meine Wohnung war stark zerstört, ich hatte gerade mein Kind bekommen. Ich hatte das Glück, mich in die Berge zurückziehen zu können und nach einem Monat mit meinem Partner und meiner Tochter nach Amsterdam, nach Madrid und schliesslich nach Paris auszuwandern. 
 
Welche Beziehung haben Sie zur Schweiz? 
Ich habe schon mehrfach die Gelegenheit gehabt, in der Schweiz auszustellen, auch im Kunsthaus Pasquart. Ich kenne und schätze diesen Ort.
 
Sie haben es während unseres Gesprächs vermieden, explizit politisch Stellung zu beziehen. Würden Sie sich trotzdem als engagierte Künstlerin bezeichnen?
Ich engagiere mich durch mein Werk. Durch das, was ich mache oder machen lasse. Ich habe an der Revolution von 2019 teilgenommen. Ich habe aber nicht das Gefühl, dass ich als Künstlerin die politischen Dinge voranbringen kann. Leider. Aber Kunst geht weiter; auch in schlechten Umständen sollte man sie nicht fallen lassen. Man muss weitermachen. 
 
Was wünschen Sie sich für den Libanon? Gibt es Hoffnung?
Nicht wirklich. Die Tatsache, während eines Krieges geboren worden zu sein und 37 Jahre später selbst Mutter geworden zu sein in einem beinahe apokalyptischen Ort, hat mich desillusioniert. Ich muss mich mit der Realität meines Landes versöhnen. Zurückzukehren bleibt mein grösster Traum.
 
Was fehlt Ihnen am meisten?
Dieses Land ist stark mit meiner Kunst verstrickt. Es ist ein Land, das in seinem Chaos sehr inspirierend ist. Es gibt Geschichte, Politik, aber auch Poesie.
 
Info: Ausstellung «Stéphanie Saadé – Building a Home with Time» im Kunsthaus Pasquart, Biel, bis 27. März. Heute Abend von 18 bis 19 Uhr öffentliche Führung mit Kuratorin Stefanie Gschwend.

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