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Biel

Kleiner Raum, viel Inhalt, grosser Name

Die Bözingenstrasse war bislang nicht eben als Kunstort bekannt. Rajhi Naseri und Xavier Sägesser wollen das ändern. Wo früher ein Nagelstudio war, betreiben sie nun den Offspace Pinacoteca.

Künstler, flankiert von Kuratoren: Xavier Sägesser, Livio Baumgartner und Rajhi Naseri (v.l.). copyright: tanja lander/bieler tagblatt
Tobias Graden
 
An einen Kulturraum denkt wohl eher nicht, wer derzeit von weitem das Schaufenster an der Bözingenstrasse 25 in Biel sieht. Es ist komplett abgedunkelt, schwarz. Das weckt eher Erinnerungen an einen gewissen Laden, der bis vor einiger Zeit weiter stadtauswärts existierte, und dessen Kundschaft es wohl schätzte, vor neugierigen Blicken von der Strasse beim Stöbern nach Sextoys und Erotikfilmen geschützt zu sein. 
Doch das Schwarz an der Scheibe ist temporär. Denn grundsätzlich soll hier gerade das Gegenteil passieren: «Wir wollen die Passanten neugierig machen und einladen», sagt Rajhi Naseri. Am Ort, wo vorher ein Nagestudio einquartiert war, ist jetzt nämlich Biels neuster Kunstraum, ein Offspace, mit dem selbstbewussten Namen Pinacoteca. 
 
Kultur statt Karren
Naseri ist in diesem Haus aufgewachsen, er kennt die Gegend, die Gentrifizierung ist hier noch so weit entfernt wie Agglolac von der Verlegung des letzten Dachziegels. Wenn er als Kind aus dem Fenster blickte, sah er vor allem die endlose Blechlawine, die sich Tag für Tag durch die Stadt wälzte. Doch wenn jetzt jemand von gegenüber aus dem Fenster blickt, sieht er oder sie bisweilen eine Gruppe von Leuten, die einem Konzert lauschen.
Zusammen mit dem Berner Xavier Sägesser ist Naseri letzten Oktober auf die Idee zur Pinacoteca gekommen. «Das Kulturleben war zu diesem Zeitpunkt noch recht ruhig», sagt er, «und dagegen wollte ich etwas unternehmen.» Die beiden studieren an der Hochschule der Künste Bern, sie werden sie diesen Sommer abschliessen, Naseri in Fine Arts, Sägesser in Vermittlung von Kunst und Design. Schon seit drei Jahren erarbeiten sie künstlerische Projekte im Duo, in Bern haben sie zum Beispiel mal einen Tag lang Radio für Bümpliz gemacht, ebenso in Biel. Nun hat sich die Gelegenheit für eine kuratorische Arbeit ergeben: Der Raum stand schon länger leer, und Naseris Vater, der die Liegenschaft besitzt, überliess ihn den jungen Initianten befristet zur Nutzung. 
 
Holz aus Plastik
Braucht Biel denn einen weiteren Kunstraum? Sägesser findet die Frage falsch gestellt. Als Offspace gebe es ja nur das Lokal-int. Zudem widme sich die Pinacoteca nicht nur der Bildenden Kunst, sondern diversen Gattungen – auf dem Programm steht mit Laurence Felber beispielsweise auch eine Trapezkünstlerin. Und schliesslich, ergänzt Naseri, sei auch die Nachfrage gegeben: Nach den coronabedingt ruhigeren Monaten wolle das Publikum wieder Kultur sehen. 
Inhaltlich wollen sich Naseri und Sägesser nicht einengen. Ziel ist es, verschiedene Positionen zu zeigen, die auch mit anderen Veranstaltungen in der Stadt in Dialog treten können. Die erste Künstlerin, Sina Schöpf, zeigte eine installative Arbeit, demnächst kommt San Keller bereits wieder nach Biel, bei ihm dürfte es eher Richtung Aktionskunst gehen. 
Das geschwärzte Fenster dieser Tage ist Livio Baumgartner zu verdanken. Der Berner Fotograf, der in Zürich lebt, hat seine Arbeit mit «RAW» («Roh») betitelt, was auch auf dem Fenster steht. Das ist ironisch und doppeldeutig zugleich – liest man den Schriftzug im Innern des Raums, steht da «WAR», also «Krieg». Baumgartner thematisiert in seiner kleinen Ausstellung den Umgang des Menschen mit der Natur, seine ambivalente Haltung ihr gegenüber:Einerseits romantisiert er sie und idealisiert sie auch, und zwar gerade mit den Mitteln des Kapitalismus. Anderseits schadet er ihr dermassen, dass er sich damit letztlich selber gefährdet. Dazu hat Baumgartner Tischsets aus Plastik fotografiert, die aber auf den ersten Blick aussehen wie Holz – der Boden in der Pinacoteca ist auch so. Vor diesen Hintergrund hat Baumgartner Begriffe gestellt, zum Beispiel «Pure», «Detox», «Balance» oder «Energy». Es sind Schlagworte, mit denen so genannter Superfood wie Federkohl beworben wird. 
Auch zeigt Baumgartner schwarze T-Shirts mit scheinbar künstlich designten Fratzen drauf. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Es sind frisch verschneite Sträucher, die diese Formen hervorbringen. Die Serie heisst «Climate World Tour 2022», in Anlehnung an die T-Shirts von Rockbands, die diese zu ihren Welttourneen drucken lassen. Die Daten, die es noch hinzuzufügen gälte, stünden aber nicht für friedliche Happenings, sondern für Eckpunkte der Klimakatastrophe.
Und schliesslich gibt es ein drittes Element: Das Schaufenster ist nicht komplett schwarz: Ein kleines Kreislein ist ausgespart. Es ist die Linse der so installierten Camera Obscura, der einfachsten Fotokamera, die alles, was sie fotografiert, auf den Kopf stellt – wie es der Mensch eben auch tut. 
 
Die Zukunft ist offen
Viel Bedeutung also für diesen kleinen Raum, der bloss ein paar Quadratmeter misst. Baumgartner zeigt aber: Man kann mit ihm einiges anfangen. «Es ist ein spannender Raum», sagt der Künstler, der sich im Vorfeld die Frage gestellt hatte:«Wie kann man ihn bedienen?» Er lobt Rajhi Naseri und Xavier Sägesser:Diese haben sich durchaus mit ihm und seiner Arbeit befasst, lassen ihm aber auch freie Hand für sein Gastspiel. 
Wird es denn in der Pinacoteca auch Kunst zu kaufen geben? «Darüber haben wir uns noch gar keine Gedanken gemacht», sagt Sägesser, «doch wir sind keine Galerie, sondern ein Offspace.» Die beiden Initianten tätigen die Auslagen derzeit aus der eigenen Tasche. «Es lohnt sich aber nur schon der Erfahrung wegen», sagt Naseri, «wir verstehen immer besser, wie mit Menschen umzugehen ist, die sich hier ausdrücken.» Baumgartner ergänzt:Sollte es zu Verkäufen kommen, werde er der Pinacoteca gerne einen Anteil abgeben. Vorerst planen die Initianten bis Ende März. Wie es dann weitergeht, ist noch offen. Für eine Weiterführung gälte es die Finanzierung zu klären. 
Bleibt die Frage nach dem Namen. Dieser ist nicht eben bescheiden:Als Pinakothek wird in der Regel eine klassische Kunsthalle bezeichnet, eine Gemäldegalerie, man stellt sich erhabene Kunst in einschüchternden Gebäuden vor – also das grosse Gegenteil vom kleinen Raum an der Bözingenstrasse 25. Also ist auch da eine Portion Ironie drin, räumen Rajhi Naseri und Xavier Sägesser ein. Allerdings: Auf italienisch klingt das gewichtige Wort gleich viel handlicher. Und es nimmt nicht zuletzt Bezug auf die Nachbarn: Flankiert wird die Pinacoteca von zwei einfachen  italienischen Restaurants. Soviel Reminiszenz ans Quartier muss sein. 
 

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