Sie sind hier

Abo

Erlach

Kultur unter dem 16-Tönner

Von Freitag bis Samstag spielt in der Grange pour Roulottes Das Seltene Orchester auf. Nicht gerade alltäglich ist auch der Ort seines Konzerts.

Christoph Gärtner in der Grange pour Roulottes - die ehemalige Scheune ist nun ein Kulturlokal. Bild: Matthias Käser
  • Dossier
Tobias Graden
 
Wer zum ersten Mal bei Christoph Gärtner und Barbara Krakenberger in Erlach einen Anlass besucht, wirft wohl anfänglich öfter mal einen bangen Blick nach oben. Wird das Gebälk die Last tragen? Oder werde ich unter einem Lastwagen begraben? Und wer sein Französischvokabular gerade nicht mehr ganz präsent hat, dem stellt sich nun vielleicht die Frage: Was genau heisst nur noch «Grange pour roulottes»?
 
Die Antwort schwebt über dem Kopf: «Scheune für Zirkuswagen». Im Falle des Raums im Städtchen 4 sind es Zirkuswagen und Zugfahrzeug. Letzteres ist ein alter Saurer-Lastwagen, 7 Tonnen Leergewicht, auf bis zu 16 Tonnen beladbar. Die Balken halten es aus, das garantiert Christoph Gärtner. Ein Bauingenieur hat alles berechnet, das ganze Gebäude wurde statisch verstärkt.
 
Für viele Jahre war dieses Gespann Gärtners Zuhause. Er war tätig als Fachmann für die technischen Belange bei zirzensischen Aufführungen, er arbeitete als Bühnentechniker und -bauer, Zeltmeister, Beleuchter und Soundingenieur, zuerst beim damaligen Circus Aladin, dann vor allem mit französischen Produktionen. 1998 liess er sich mit seiner Familie in Erlach nieder, wurde sozusagen sesshaft, die Gelegenheit, ein altes Bauernhaus zu kaufen, war günstig. Den Zirkuswagen und den Saurer lagerte er in der Scheune ein, doch irgendwann fand er: Dieser Raum ist zu schön, als dass ich ihn bloss als Lagerstätte gebrauchen möchte – wenn ich die Fahrzeuge ins dafür verstärkte Tenn hochzügle, gibt das neue Möglichkeiten für die Scheune.
 
Wie hebt man denn einen Saurer in einem Gebäude mehrere Meter hoch? «Ganz einfach: mit vier Habeggern», sagt Gärtner trocken und meint damit die bewährten Seilzug-Geräte, «aber es braucht schon etwas Kraft.» Nun war der Raum frei geworden. Gärtner und Krakenberger statteten ihn mit einer Bühne, eine Tribüne und einer professionellen Ton- und Lichtanlage aus, und 2018 hiess es zum ersten Mal: Scheune frei!
 
Lieblich und ungestüm
Maximal vier Produktionen pro Jahr bringen die beiden seither nach Erlach. Es sind zumeist Gruppen aus Gärtners Bekanntenkreis, Compagnien aus der zirzensischen Welt: Variétés, Zirkusse, aber auch Musikproduktionen. Sein Netzwerk kommt ihm zugute: So trat diesen Frühling beispielsweise das Atelier Lefeuvre & André auf, ein Duo, das sonst in Paris, Brüssel oder Prag spielt. Ziel ist es, so Gärtner, qualitativ hochstehende Vorführungen zu bieten von Formationen, die in der Region womöglich noch nicht so bekannt, aber auch für ein breites Publikum zugänglich sind. Gärtner sagt: «Zirkus funktioniert für Menschen jeglichen Alters.» 
 
Diese Woche aber steht Musik auf dem Programm. In der Grange pour Roulottes gastiert Das Seltene Orchester. Seine Besetzung ist eher ungewöhnlich, seine Musik höchst spannend. Es hat keine Dirigentin, dafür ein Streichquartett, ein Bläserquartett und eine Rhythmusgruppe mit Hackbrett. Gegründet 2015 von der Saxophonistin Chili Romer und der Violinistin Laura Schuler, versteht sich das zwölfköpfige Ensemble als Kollektiv, dessen Mitglieder Einflüsse aus sehr unterschiedlichen Stilrichtungen einbringen: dem Jazz, der klassischen Musik, der Volksmusik, der Improvisation, der zeitgenössischen Musik. Seine Stücke changieren denn auch auf unvorhersehbare Weise, melodiös-lieblichen Passagen folgen ungestüm-wilde Phasen, geschriebene Musik wechselt sich ab mit freiem Mäandern.
 
Schwierige Musik aber sei dies nicht, sagt Christoph Gärtner, sie sei im Gegenteil sehr zugänglich, sofern man bereit sei, sich ihr hinzugeben: «Diese Musik kreiert Bilder, bei mir läuft im Kopf ein Film ab. Das ist für alle Zuhörenden möglich, man muss dafür nicht zwingend etwas von Musik verstehen.» Und er sieht durchaus Berührungspunkte zu den zirzensichen Künsten, ganz abgesehen davon, dass bei einer so grossen Formation nicht nur das Zuhören, sondern auch das Zuschauen interessant sein kann: «Das Seltene Orchester macht alles von Hand, und viele Leute müssen miteinander kommunizieren.» So entstehe jedes Stück jedes Mal wieder aufs Neue, wie beim Zirkus: «Manche Stücke haben wir 500 Mal gespielt, aber es ist nie langweilig geworden. Denn man muss es jedes Mal mit Überzeugung tun, sonst funktioniert es nicht.» 
 
Dass die Grange pour Roulottes klanglich nicht genügen könnte, darüber müssen sich die Musikerinnen und Musiker und das Publikum keine Sorgen machen:«Der Raum hat eine wunderbare Akustik», versichert Gärtner, «mit den porösen, groben Mauern ergibt sich ein sehr klarer Sound.»
 
Einfach geniessen
Mittlerweile hat sich die Grange pour Roulottes in der Region Erlach als Veranstaltungsort etabliert, Gärtner und Krakenberger haben ein treues Stammpublikum aufbauen können, das aber gut noch wachsen kann, auch wenn coronabedingt derzeit nur die Hälfte der etwa 100 Plätze besetzt werden kann. Gärtner betont den inhaltlich niederschwelligen Zugang: «Es gibt keinen Grund, Angst vor allfälliger schwieriger Kunst zu haben – die Aufführungen bei uns kann man auch einfach geniessen.» 
 
Mehr als vier Produktionen pro Jahr möchte er aber nicht anbieten. Dazu wäre eine Professionalisierung nötig, hat Gärtner doch jeweils etwa eine Woche Arbeit. «Für uns sollen weiterhin die Freude und die Lust im Vordergrund stehen», sagt er. Dies überträgt sich offenbar jeweils aufs Publikum. Die Künstlerinnen und Künstler erhalten ihre Gage als Kollekte – Gärtner garantiert ein vereinbartes Minimum, aber dieses ist bislang noch jedes Mal von selber zustande gekommen. Und die Balken haben bislang auch gehalten. 
Stichwörter: Kultur, Musik, Erlach

Nachrichten zu Kultur »