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Hörspiel

Kulturelle Nahrung fürs Ohr

In Deutschland ist «Das grosse Heft» von Ágota Kristóf als «Hörspiel des Monats» ausgezeichnet worden. Massgebend daran beteiligt: Der Bieler Musiker und Komponist Martin Schütz.

Martin Schütz vertont die Handlung in stundenlanger Kleinstarbeit.  copyright: peter samuel jaggi/bieler tagblatt
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Rudolf Amstutz

In den 1950er-Jahren floh Ágota Kristóf von Ungarn in die Schweiz. In beschaulicher Umgebung am Neuenburgersee, nach der täglichen Monotonie am Fliessband als Fabrikarbeiterin, setzte sich die Autorin abends hin und schrieb über die Kriegserlebnisse als Jugendliche. Doch es sollte am Ende keine herkömmliche Autobiografie werden. In «Das grosse Heft» herrscht zwar Krieg, aber dieser Krieg findet irgendwo, irgendwann statt. Eine Mutter entledigt sich ihrer Zwillinge, bringt sie von der Stadt aufs Land zur Grossmutter. Im Dorf wird die Grossmutter nur «Die Hexe» genannt, sie nennt ihre Enkel «Hundesöhne».

Abgründe zwischen den Zeilen
Losgelöst von jeglicher sozialer Struktur, auf sich alleine gestellt, entwickeln die Zwillinge ein kollektives «Wir». Gemeinsam erfahren sie die Welt, gemeinsam erkunden sie mentale und physische Grenzen. Sie werden zu Dieben, zu Bettlern, Rächern und Mördern. Den Weg von Unschuldigen zu Tätern protokollieren sie minutiös in einem «grossen Heft», das sie im Dachstock verborgen halten. Die Sprache, die sie dafür benutzen, ist kalt, sachlich, erbarmungslos, erschütternd.
Der Roman, der 1986 als «Le grand cahier» erschien und 2006 in die Reihe der «Schweizer Bibliothek» aufgenommen wurde, lebt von den seelischen Bruchstellen seiner Protagonisten. Von den Abgründen, die sich zwischen den Zeilen der einfachst gehaltenen Sätze der Zwillinge auftun. Regisseur Erik Altorfer hat nun gemeinsam mit Komponist Martin Schütz dieses beklemmende Schlüsselwerk der 2011 verstorbenen Kristóf in ein beeindruckendes Hörerlebnis verwandelt.

Wie ein flüssiges Schwert
Über fast zwei Stunden wird die Zuhörerin, der Zuhörer tief in die Abgründe hineingezogen. Gleich zu Beginn ein undefinierbares Rascheln, das sich langsam zu einem rhythmischen Faden entwickelt. Ein klöppelndes Geräusch, gezupfte Saiten und in der Ferne Fragmente einer versuchten Harmonie, bevor die Stimmen einsetzen. Gelesen von Libgart Schwarz und Kristof Van Boven in einer Weise, die gleichzeitig Nähe wie Distanz vermittelt. Die Schärfe von Kristófs Sprache, der lapidare Stil, mit der die Zwillinge ihre Erlebnisse schildern, wirkt wie ein flüssiges Schwert, das sich den Weg in die Gehörgänge bohrt.
«Das grosse Heft» ist mehr als ein Hörspiel. Es ist ein zutiefst intimes Kammerstück, in dem das Wort und der Klang unentwegt pas de deux tanzen. Oft verdoppeln sich die Stimmen, verschieben sich örtlich, um der Orientierungslosigkeit Nachdruck zu verleihen. Die Musik unterstützt die Handlung – oder widerspricht ihr zuweilen, um der Zuhörerin, dem Zuhörer Fluchträume anzubieten. Oder sie hält schlicht und einfach inne. Die Stille spielt eine massgebliche Rolle. Sie ist Ort der Reflektion und als Gegenpol des Geschilderten auch Verstärker der Botschaft.

Das Laub klingt bedrohlich
Schütz und Altorfer arbeiten seit 2001 zusammen und haben gemeinsam schon weit über ein Dutzend Hörspiele erarbeitet. Während Altorfer die Vorlagen in ein Hörstück überträgt, sorgt Schütz für das gesamte Sounddesign und die Musik. Dabei kommt ihm seine Erfahrung zugute. Er war über viele Jahre der Hauskomponist für die Theatermacher Christoph Marthaler und Luc Bondy. Mit der Tänzerin Anna Huber bildet er ein kongeniales audiovisuelles Duo und mit dem Hardcore Chamber Trio Koch-Schütz-Studer kartographierte er während dreissig Jahren die Grenzen der improvisierten Musik neu.
«Dass ich von der improvisierten Musik herkomme, hilft mir bei dieser Arbeit», bestätigt Schütz, der zu Beginn von «Das grosse Heft» von Altorfer 30 Sprachspuren mit dem gelesenen Text erhält und dann in stundenlanger Kleinstarbeit beginnt, die Handlung zu vertonen. «Das Rascheln zu Beginn des Stücks ist das Rascheln des Laubs auf einem meiner einsamen Spaziergänge durch den Wald», sagt Schütz. Mit dem Handy aufgenommen und als Sample dann im Tempo verändert, wird dieses Geräusch zu einem bedrohlichen Rhythmus, der das Hörstück vorantreibt. «Ich baue mir oft aus alltäglichen Gegenständen virtuelle Instrumente, die ich auf dem Computer bearbeiten kann und auch mein Cello nutze ich auf die verschiedenste Art und Weise», erklärt er. «Im Entstehungsprozess treffe ich mich regelmässig mit Erik in meinem Heimstudio, um die gemachten Fortschritte zu evaluieren.»

Regen als Regen ist zu einfach
Gemeinsam mit Altorfer bildet Schütz mittlerweile eines der gefragtesten und meistgeschätzten Teams, wenn es um Hörspiele geht. Dies auch, weil die beiden sich der traditionellen Form eines Hörspiels verweigern und sich strikt dem Inhalt ihrer Vorlagen verschrieben haben. «Ich mag die klischierten Vertonungen nicht», sagt Schütz. «Wenn es in der Geschichte regnet und dann hört man Regen, das ist mir zu einfach. Da muss mehr geschehen als die simple Vertonung. Für mich sind Hörspiele kulturelle Nahrung für die Ohren.»
Und so tauchen wir dank den wundersamen Geräuschen ein in die Geschichte von Ágota Kristóf, fühlen das Leid, spüren die Kälte und holen dort Atem, wo der Komponist uns für kurze Zeit ruhen lässt, bevor sich die Handlung unerbittlich weiterspinnt.

«Grossartig und stark»
«Das große Heft» sei beunruhigend, grossartig und stark; eine perfekte Komposition aus Sprache, Stimmen, Stille und Musik, schreibt die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste in ihrer Begründung diese Adaption zum «Hörspiel des Monats» zu erklären. Derweil sind Altorfer und Schütz bereits an der Erarbeitung ihres nächsten Projekts.

Info: Hörspiel «Das grosse Heft». Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Ágota Kristóf. Bearbeitung und Regie: Erik Altorfer. Komposition: Martin Schütz. Gesprochen von Libgart Schwarz und Kristof Van Boven. Eine Koproduktion von Deutschlandfunk, Hessischer Rundfunk und SRF. Dauer: 115 Minuten.

Die Links zum Hörspiel:

https://www.srf.ch/audio/hoerspiel/1-2-das-grosse-heft-von-gota-krist-f?id=12073014

https://www.srf.ch/audio/hoerspiel/2-2-das-grosse-heft-von-gota-krist-f?id=12073017

 

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