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London ruft zum «Brixton Fever»

Die Bieler Punkband Chicken Reloaded präsentiert morgen Abend ihr zweites Album. Unverhohlen huldigt sie darauf ihren Helden – auch in den eigenen Songs.

Chicken Reloaded sind traditionsbewusst und unsubventioniert.  zvg/otto böhne
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"Forever Sky"

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Tobias Graden

Die Szenerie ist dramatisch, laut «Jeremy Hargraves from the BBC», der da gerade aus Brixton, London, berichtet. Zerstörung und Gewalt sehe er vor sich, dutzende Protestierende lieferten sich Schlachten mit der Londoner Polizei, es sei nachgerade eine Kriegsszene, die er da beobachte. Läden, Häuser und Autos seien am Brennen, während er rede, Scheiben würden eingeschlagen, Plünderer seien am Werk. Die Polizei habe sich nach Kräften zu wehren gegen Flaschenwürfe und Molotow-Cocktails.
Dann setzt der Chor wieder ein, mit einem mehrstimmigen «Oooh-ooh-ooh-ooh!» in bester Fussballkurvenmanier und dem Schlachtruf «Brixton Fever tonight!», dazu der stampfende Midtempo-Schlagzeugbeat, der ihm synchron folgende Bass und angehallte Gitarren – es ist was los in Brixton an dem Abend.

Über den Atlantik und zurück
Sind das also The Clash, die Ende der 1970er-Jahre gegen die Zustände in Britannien am Vorabend der Thatcher-Ära ansingen? Nein, es sind vier Bieler, die in die Mikrofone schreien, als seien sie daran, die Revolution auszurufen. Das Stück heisst «Brixton Fever», und es ist eine unverhohlene Hommage an The Clashs «London Calling».
Chicken Reloaded heisst die Band, die sich ursprünglich für bloss zwei Auftritte formierte, an denen sie ihren Punk-Heroen der 70er zu gedenken gedachte und nun doch schon ihr zweites Album präsentiert. «Forever Sky» heisst es, auf schön schweres Vinyl ist es gepresst und es ist eine kurzweilige Zeitreise, welche die Band um Sänger Pat (Pat Benoit) und Gitarrist Jack (Jachin Baumgartner) da veranstaltet.  
An anderer Stelle sind die Referenzen noch offenkundiger, wobei die Bieler mit Leichtigkeit über den Atlantik hin- und zurückspringen: Der Song «Last Bandit» stammt von Dogs d’Amour, «Search & Destroy» von The Stooges und «Black Girl / White Girl» von Lords Of The New Church. «Wir führten kontroverse Diskussionen darüber, ob wir wieder Covers auf das Album nehmen sollen», erzählt Baumgartner, «ich finde: Stehen wir doch dazu und zeigen auf, wo unsere Musik herkommt.» Schliesslich helfe dies auch, die restlichen eigenen Songs der Platte einzuordnen.

Zweite Heimat Berlin
Entstanden sind diese Lieder unterwegs. Das Quartett gab in den letzten Jahren manche Konzerte, viele davon in Deutschland, wo Berlin zu einer zweiten Heimat der Band geworden ist. Und wo kürzlich «Forever Sky» zum ersten Mal getauft worden ist, samt Gastauftritt des Exil-Bielers Mathias Wyder, der mit seinem Sound 8 Orchestra in der deutschen Hauptstadt dem Retrofuturismus huldigt.
Das Publikum für 70er-Jahre-Punk ist in Deutschland naturgemäss grösser, lange Wochenendfahrten zu Konzerten sind für die Bieler darum eher die Regel als die Ausnahme. Im Bandbus, in Hotelzimmern, nachts am See schrieben also vornehmlich Baumgartner und Benoit Songs, die Band testete sie auch gerade live aus, so dass Chicken Reloaded schliesslich bestens eingespielt waren, als es im eigenen heimischen Studio ans Aufnehmen ging. Für Mix und Mastering sandten die Bieler ihre Musik dann wiederum nach Berlin zu Fabio Buemi, und das Artwortk gestaltete wie beim vorherigen Album der Grafiker Marian Facci. «Wir haben unser Umfeld gefunden, mit dem wir gerne zusammenarbeiten», sagt Baumgartner.

Fast ein Radiosong
Chicken Reloaded erfinden nun den Punk nicht neu, sondern geben sich im Gegenteil sehr traditionsbewusst – was aber nicht heisst, dass sie komplett stehenbleiben. Im Stück «Playground Reloaded» ist als Gastsängerin Julie Beriger zu hören, die in der Region als kraftvolle Stimme von Ripstone bekannt geworden ist, nun aber ihre eigenen Wege geht – und auch im morgigen Bieler Konzert einige Bühnenzeit bekommen wird. Der Refrain überrascht mit akustischer Gitarre und einer Orgel, die leicht als Synthesizer gedeutet werden könnte – hat die Punkband gar an einen Radiosong gedacht? Baumgartner verneint: «Solche Überlegungen machen wir uns zu keinem Zeitpunkt.» Der Song tauchte in seiner ursprünglichen, raueren Form schon auf dem Debütalbum auf. Es war jene Version, die Pat Benoit lieber war, nun durfte Baumgartner seine poppigere, orchestralere Variante einspielen. Eingängig geht es alsbald weiter: «Eastbound Train» überzeugt als Americana-Track mit Refrain zum Mitsingen, «Motivation» rundet das Spektrum Richtung Reggae ab.

Sie tun alles selber
Für die Veröffentlichung haben Chicken Reloaded kurzerhand ihr eigenes Label gegründet. Auf Heaven Records dürften bald auch das neue Album von Baumgartners anderem Projekt Dream Pilot erscheinen, sowie die Musik der Balkanjazzer Mirakolo, mit denen der Gitarrist als Tonmeister zusammenarbeitet. Denn während der Punk von Chicken Reloaded inhaltlich bei aller Sozialkritik die herrschenden Verhältnisse kaum mehr tangieren dürfte, so legt das Quartett doch grossen Wert auf dessen Do-it-yourself-Attitüde: «Wir äussern unsere Meinung mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln», sagt Baumgartner, «aber wir machen keine subventionierte Kunst, sondern tun alles selber – dazu gehört das eigene Label.»
Strassenschlachten kommen also als Geschichtszitat in den Songs noch vor – in der heutigen Realität freut sich die Band, dass sie nun schon zweimal im «Rock Special» auf SRF 3 gespielt worden ist.
Info: «Chicken Reloaded: «Forever Sky» (Heaven Records). Plattentaufe zusammen mit Moped Lads morgen Abend im Le Singe, Biel, ab 20 Uhr.

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