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Konzert

«Mir ging es ein bisschen wie Obelix, der in den Zaubertrank fiel»

Marco Antonio Pérez-Ramírez ist Orchestermanager bei Theater Orchester Biel Solothurn und Komponist mit einem unüblichen Werdegang. In seinem jüngsten Werk, das morgen in Biel uraufgeführt wird, schiesst er nur zum Schein scharf.

Marco Antonio Pérez Ramirez beginnt ein neues Werk beim Takt 1. Bild: Yann Staffelbach

Interview: Annelise Alder

Marco Antonio Pérez-Ramírez, «Bang Bang!», so lautet der Titel Ihres neuen Werks, das im nächsten Konzert des Sinfonieorchester Biel Solothurn uraufgeführt wird. Muss das Publikum einen Ohrenschutz tragen?

Marco Antonio Pérez-Ramírez: Nein, nein! Meine Musik tönt zwar manchmal heftig. Der Titel ist aber mit einem Augenzwinkern zu verstehen. Er lehnt sich an einen Song von Nancy Sinatra und an ein Buch von Christophe Donner an, die denselben Titel tragen. Im Lied von Nancy Sinatra ist von einem Revolver die Rede. Ein Schuss kann das Ende bedeuten, aber auch einen Anfang markieren. Mehr ist da nicht. In meinem Stück spielt Schärfe eine gewisse Rolle, es hat auch etwas mit Metall zu tun. Ich mag dieses Material, auch in meiner Musik. 

Was oder wer hat Sie zu diesem Stück angeregt?

Kaspar Zehnder hat mich angefragt. Ich war gerade daran, das Programm des kommenden Sinfoniekonzerts mit dem Titel «All you need is revolution» zusammenzustellen. Ich war auf der Suche nach einem Stück für Bassklarinette und Orchester, weil die Klarinettistin Azra Ramic mitwirkt. Iannis Xenakis hat zwar ein Werk in dieser Besetzung geschrieben, aber das hätte nicht ins Programm gepasst. Ich habe auch meinen Verleger in Paris nach einem passenden Stück gefragt. Auch das hat nicht geklappt. Am Schluss hat mich Kaspar gebeten, ein Werk für Bassklarinette und Orchester zu komponieren.

Die Bassklarinette ist ein aussergewöhnliches Instrument

Ich habe dessen Klang immerzu im Kopf. Das Instrument bedeutet mir viel. Mein erstes Werk für ein Soloinstrument war nämlich eines für Bassklarinette. Es war auch die erste Komposition von mir, die weltweit beachtet wurde. Das ist aber lange her. Heute ist das Stück verschollen. Ich habe die Partitur nicht mehr und es gibt keine Einspielung davon. Das einzige, an was ich mich erinnere, ist der Klang der Bassklarinette.

Sie wollten mit dem neuen Werk an das alte, verlorene anknüpfen?

Als ich Azra, die Klarinettistin spielen hörte, dachte ich mir, dass dieses verschollene Werk etwas für sie gewesen wäre. Nun schreibe ich ihr ein neues Stück. Ich komponiere immer für Künstlerinnen und Künstler, die ich kenne und schätze. Ihr Spiel dient mir als Inspiration.

Wird in Ihrem neuen Stück das ganze Orchester zum Einsatz kommen?

Nein, neben der Solo-Bassklarinette bilden Streicher, zwei Hörner, Trompete, Posaune, Schlagzeug und Pauken das Orchester.

Ich frage deshalb, weil Sie das Sinfonieorchester wie wohl niemand sonst bei Tobs, Theater Orchtester Biel Solothurn, kennen – ausser vielleicht Kaspar Zehnder. Sie sind nämlich der Manager des Orchesters. Was genau ist Ihre Aufgabe?

Viele meinen, dass ich der Chef oder der Direktor des Sinfonieorchesters Biel Solothurn sei. Doch meine Aufgabe als Manager ist mehr eine administrative. Ich kümmere mich um die Musikerinnen und Musiker, die Verträge, die Auftritte ausserhalb von Biel oder um die Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft. Ich bin auch für das Budget verantwortlich. Vor allem ist es mir ein Anliegen, das Orchester weiterzuentwickeln. Die Künstlerinnen und Künstler, die ich dank meinem grossen Netzwerk kenne und in Biel engagiere, sollen Orchester und Publikum voranbringen. Ich möchte, dass das Publikum inspiriert wird, dass es etwas Neues entdeckt, eine junge Solistin, einen grossartigen Interpreten, ein neues Werk. Das ist es, was mich motiviert.

Haben Sie auch Einfluss auf die Zusammensetzung der Programme?

Als mich Kaspar im Jahr 2013 fragte, ob mich die Aufgabe als Orchestermanager interessieren würde, sagte ich zu. Dies aber unter der Bedingung, dass ich auch ein künstlerisches Mitspracherecht habe. Davor war ich Orchesterdirektor in Montpellier. Ich war zuständig für die Programme, aber auch für die Wahl der Solistinnen und Dirigenten. Bei der Arbeit mit einem Orchester steht für mich der künstlerische Aspekt immer an erster Stelle.

Wie läuft das nun bei Tobs ab?

Kaspar ist natürlich der Chef, aber wir diskutieren sehr viel miteinander. Es gehört auch zu meinen Aufgaben, die Musikszene zu beobachten und Vorschläge zu machen. Wir engagieren gerne auch Künstler, die am Anfang einer Karriere stehen. Ning Feng zum Beispiel, der hier gespielt hat, ist heute in der ganzen Welt gefragt. Als Orchesterdirektor in Montpellier habe ich Nathalie Stutzmann als Dirigentin engagiert, obwohl niemand sie in dieser Funktion ernst nahm. Heute ist sie für mich eine der grössten Dirigentinnen der Welt. Es ist dieses Vertrauen, die Freundschaft mit ihr, die dazu geführt hat, dass sie auch nach Biel kam, um zu dirigieren.

Theater Orchester Biel Solothurn profitiert also auch von Ihrem grossen Netzwerk.

In Montpellier oder beim Festival Radio France, wo ich gearbeitet habe, begegnete ich vielen grossen Persönlichkeiten der Musikwelt, wie Riccardo Muti, Kurt Masur, Lawrence Foster, Evgeny Kissin, Cecilia Bartoli, Alfred Brendel ... Dieses Beziehungsnetz kommt mir bei meiner jetzigen Tätigkeit zugute.

Sie kennen auch Elena Schwarz, die das kommende Konzert dirigieren wird?

Auch das war mein Vorschlag. Ich schätze sie sehr. Sie steht am Anfang einer grossen Karriere, davon bin ich überzeugt. Sie ist ein grosses Talent.

Haben Sie sich das kommende Programm ausgedacht?

Natürlich habe ich es auch mit Kaspar diskutiert. Aber es ist mein Vorschlag. Es ist eigentlich eine Weiterentwicklung des Programms «Bad Boys», das wir vor zwei Jahren realisiert haben. Auch damals spielte das Klavierduo Françoise/Grimâitre. Nach dem Konzert sagte ich den Pianisten, dass ich gerne ein weiteres Konzert mit ihnen realisieren und eine Komposition für sie in Auftrag geben möchte. Das neue Werk von Adam Maor bildet nun das Herzstück eines Programms, das auch dieses Mal klassische und zeitgenössische Musik vereint.

Weshalb haben Sie ein Stück für Posaune solo von Luciano Berio dazwischen platziert?

Der Begriff «Revolution» hat viele Facetten. Beethoven war auf vielen Ebenen bahnbrechend. Berio hat mit seinen Solostücken Revolutionäres im Bereich der Soloinstrumentalmusik realisiert. Die Sequenza für Posaune solo, die ich sehr schätze, wurde durch den Clown Grock inspiriert. Die Posaune ahmt Grocks typischen «Warum»-Laut nach.

Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee eines «revolutionären» Programms?

Die Pandemie hat das kulturelle Leben zum Stillstand gebracht. Mit der Lockerung wollten die meisten Kulturschaffenden dort fortfahren, wo sie aufgehört haben. Ich finde das problematisch. Der Lockdown hat viele negative Aspekte im Kulturbereich freigelegt, nicht nur in der Schweiz, sondern auf der ganzen Welt. Die Zeit der Pandemie hätte genutzt werden sollen, um festgefahrene Dinge zu ändern. Die desolate Situation für Komponisten ging zum Beispiel ganz vergessen. Die Medien berichteten meistens nur über die schwierige Situation der Orchester und der Künstlerinnen und Künstler. Für mich war das kein Problem, weil ich ja bei Tobs angestellt bin. Viele freischaffende Komponisten aber lebten unter prekären Bedingungen. Dabei bilden sie ja das Zentrum der musikalischen Schöpfung. Ohne sie gäbe es keine Musik. Das Programm «All you need is revolution», das zwei Uraufführung enthält, soll an die Bedeutung von Komponisten erinnern. Ich hoffe, das Publikum versteht das.

Welche Rolle spielt Ihr Werk im Gesamtprogramm?

Es ist ein Werk für Soloinstrument und Orchester. Es hat fast eine philosophische Dimension in dem Sinne, dass es um die Auseinandersetzung zwischen einem Individuum mit dem Kollektiv geht. In fast allen meinen Werken geht es um dieses Thema, weil es bis zu einem gewissen Grad auch meine eigene Position im Leben reflektiert, nämlich die des Aussenseiters in der Gesellschaft. Das kommt manchmal hart, sogar brutal daher. Auch weil ich finde, dass das Leben als Komponist hart ist.

Ist es das erste Mal, dass das Sinfonieorchester Biel Solothurn ein Werk von Ihnen aufführt?

Vor sechs Jahren wurde bereits eine kleinere Komposition von mir gespielt. Grundsätzlich möchte ich aber nicht, dass das Sinfonieorchester Biel Solothurn meine Musik spielt. Ich bin zu sehr mit dem Orchester verstrickt. Das fände ich nicht gut. Ich habe dieses Mal zugesagt, weil Kaspar mich gefragt hat.

Wo liegen Ihre musikalischen Wurzeln?

Ich begann bereits mit vier Jahren Gitarre zu spielen. Mein damaliger Lehrer in Chile erteilte mir 20 Minuten Unterricht in klassischer Musik, anschliessend 20 Minuten in Volksmusik.

Welche Art von Volksmusik war das?

Das waren meist einheimische Lieder oder Tänze wie die Cueca. Als ich neun Jahre alt war mussten wir wegen des Militärputsches unsere Heimat verlassen. In Frankreich, wo wir uns niedergelassen hatten, spielte ich zusammen mit meinem Bruder in einer Jazz- und Rockband. Mit meinen beiden älteren Schwestern gründete ich eine Volksmusikgruppe. Ich spielte darin verschiedene Instrumente, darunter die Panflöte oder die Quena. Ich hatte mir alles selbst beigebracht. Die Volksmusik bedeutete mir viel, weil sie mich stark mit meiner chilenischen Heimat verband. Die «Chaconne» von Johann Sebastian Bach ist eines meiner Lieblingswerke. Aber sie steht für mich auf derselben Ebene wie die Volksmusik der Anden. Viele glauben, in meiner Musik einen Einfluss dieser Volksmusik zu hören. Ich finde es eigentlich nicht, aber jeder ist natürlich frei, meine Musik auf seine Art zu interpretieren.

Sie begannen dennoch ein klassisches Gitarrenstudium.

Neben der Volksmusik spielte ich weiterhin Gitarre. Ich wollte unbedingt Musik studieren. Mein Vater fand, das sei kein richtiger Beruf. Deshalb schrieb ich mich zu Beginn des Studiums in den Fächern Gitarre und Mathematik ein.

Wie kam Ihr Interesse für zeitgenössische Musik?

Ich war ein musikalischer Aussenseiter, weil ich von der Folklore kam. Auch über das Gitarrenrepertoire lernt man ja nicht den klassischen Musikkanon kennen. Bei der zeitgenössischen Musik ging es mir ein bisschen wie Obelix. Ich bin gleichsam in sie hineingefallen. Als ich zum ersten Mal ein Werk von Iannis Xenakis hörte, war ich überwältigt. Ich kannte damals weder Brahms noch sonst irgendein Werk, das davor entstanden war. Erst nach und nach lernte ich Schönberg, Berg und die romantische Musik kennen.

Ich habe gelesen, dass Ihnen auch der Philosoph Henri Bergson viel bedeutet. Inwiefern?

Ich hatte immer Mühe, über meine Musik zu sprechen, auch weil mir der klassische Hintergrund fehlte. Eines Tages entdeckte ich Bergsons massgebliches Buch «La pensée et le mouvant» (Titel der deutschen Ausgabe: «Denken und schöpferisches Werden», Anm. d. Red.). Darin schreibt er über die Bedeutung der Intuition und über die Wahrnehmung von Zeit. Mein erster Gedanke war: «Er hat ja alles von mir kopiert, ich bin ja selber Bergson». Der Philosoph hat mir also geholfen, über meine Musik zu sprechen.

Sprechen wir also über Ihre Art, zu komponieren.

Ich schöpfe aus dem Moment heraus. Ich beginne ein neues Werk mit der Niederschrift von Takt eins. Ich weiss aber nicht, was dann folgt. Wenn ich mir zu viele Gedanken über die Fortsetzung des Stücks mache, dann beengt mich das. Ich möchte die totale Freiheit behalten und intuitiv arbeiten.

Auch der Grafiker und Maler Pierre Soulages ist Ihnen wichtig

Die Arbeiten von Pierre Soulages entdeckte ich in einer kleinen Galerie in Paris. Sie überwältigten mich genau so, wie kurz davor die Entdeckung der Musik von Xenakis. Erst viele Jahre später lernte ich Pierre Soulages persönlich kennen. Nach einem Konzert in Montpellier, wo ein Werk von mir uraufgeführt habe, lud er mich in sein Atelier in Sète ein. Seither sind wir freundschaftlich verbunden. In meiner Musik lässt sich diese Verbindung aber nicht nachweisen.

Als Orchestermanager sind sie stark ausgelastet. Haben Sie überhaupt Zeit, um zu komponieren?

Als ich früher nur als Komponist arbeitete und viele Aufträge hatte, komponierte ich von 8 Uhr bis 21 Uhr. Sehr langsam also. Meine Art zu komponieren hat sich nicht verändert. Aber weil ich nicht mehr täglich komponieren kann, sondern nur noch abends oder am Wochenende, bin ich inzwischen viel effizienter geworden.

 

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Das Konzert

  • Morgen Mittwoch, 19.30 Uhr, Kongresshaus Biel
  • «All you need is revolution»
  • Werke von Beethoven, Xenakis, Maor (Uraufführung), Berio und Pérez-Ramírez (Uraufführung)
  • Leitung: Elena Schwarz
  • Mitwirkende : Antoine Françoise und Gilles Grimaître (Klavier), Azra Ramić (Bassklarinette), Jaro Baran (Perkussion), Gabriele Marchetti (Posaune), Sinfonieorchester Biel Solothurn. aa

 

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Zur Person

  • Geboren 1964 in Santiago de Chile
  • Gitarren- und Mathematikstudium in Paris
  • Freischaffender Musiker und Komponist
  • ab 2007 Künstlerischer Leiter des Orchestre National de Montpellier
  • seit 2013 Orchestermanager bei Theater Orchester Biel Solothurn
  • Preisträger der Stiftungen Chatschaturjan, Bukurechliev und der Unesco
  • Seine Werke werden in der ganzen Welt gespielt, so an der Biennale Venedig oder in Paris an der Cité de la Musique aa
Stichwörter: Konzert, Kunst, Kultur, Biel, Orchester

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