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Literatur

Mit Anna kommt der Krieg ins Dorf

«Das Licht hinter den Bergen» von Thomas Röthlisberger ist ein Roman über die Schweiz der Kriegsjahre. Er überzeugt literarisch ebenso, wie er vom Thema und von der Geschichte her betroffen macht.

Auf der anderen Seite des Passes sucht die Lehrerin Zuflucht (Wanderweg bei St. Antönien im Prättigau). zvg/P. Aebi

Charles Linsmayer

Thomas Röthlisberger, der im Bernischen Kirchlindach lebende Verfasser von Romanen wie «Das Lotsenhaus» oder «Die Eiswanderung», erzählt mit Vorliebe von einsamen Gegenden im Hohen Norden. Diesmal aber führt er uns in eine ebenso verlorene Gegend in der Schweiz, in ein Seitental zuhinterst im Prättigau, wo man Pizokel isst, Padrun oder Arquint heisst und sich mit «Allegra» begrüsst. In dem kleinen Bergdorf ist der Rheintaler Anton Marxer seit 12 Jahren Lehrer und lebt mit seiner Frau, der nach einem Schlaganfall gelähmten und stummen Barbla, in der Wohnung über dem einzigen Schulzimmer des Dorfes.

Ordnung ins Chaos bringen
Es ist Anfang September 1939, Hitler ist in Polen einmarschiert, und der wortkarge Lehrer, der Kraft bei jener Melancholie und Traurigkeit findet, die Tschechows Bücher für ihn verkörpern, hat Mühe, den Kindern das Wort «Krieg» zu erklären und hält dennoch, auch wenn die Welt aus den Fugen ist, an seiner selbstgestellten Aufgabe fest: Ordnung ins Chaos zu bringen. Gegen das, was auf der andern Seite des Bergs, hinter der Grenze, geschieht, ist er machtlos, aber manchmal fragt er sich, «was er hier tat, warum er nicht dort war, draussen, bei den anderen, und am Rand einer Grube darauf wartete, dass ihm in den Kopf geschossen würde». Schon bald aber zeigt sich, dass der Krieg indirekt auch in dem kleinen Dorf seine Spuren hinterlässt und es einen integeren Menschen wie diesen Anton Marxer braucht, um das Schlimmste zu verhüten.

Angst vor dem Fremden
Als nach einer abenteuerlichen Flucht über die Berge mitten in der Nacht eine politisch Verfolgte, die junge Vorarlberger Lehrerin Anna Schwarz, vor der Tür des abseits gelegenen Schulhauses steht, nimmt Marxer sie bei sich auf. Er unterlässt es, sie polizeilich zu melden und erklärt im Dorf, wo man Anna für eine geflohenen Jüdin hält, es sei eine entfernte Verwandte der Familie auf Besuch. Meisterlich, wie Röthlisberger das Aufflackern von Misstrauen, Ablehnung und Fremdenfeindlichkeit unter der Dorfbevölkerung nachvollziehbar macht und mit welch dramatischer Verve die Auseinandersetzung in der Dorfbeiz «Crusch Alba» beschworen ist, die schliesslich in einer Schlägerei mit Todesfolge kulminiert. Noch sehr viel gekonnter und eindringlicher aber präsentiert Röthlisberger in seiner gemessenen, präzisen, Schritt für Schritt sich steigernden, Landschaft und Stimmungen mit einbeziehenden Erzählweise die zwei Liebesbeziehungen, in die Anna Schwarz involviert ist: eine üble, gegen den Willen der jungen Frau sich abspielende, verderbliche und übergriffige – und eine zarte, mitleidvolle, respektvolle, von echter Liebe getragene, aber unerfüllte, die ihre Rettung bedeutet.

Bedrängt vom Wahnsinnigen
Erstere bringt der alternde Giusep Arquint in Gang. Der Vater von Marxers behinderter Ehefrau Barbla hat vor einigen Jahren seine Frau Clara verloren und glaubt oder redet sich in einer pathologischen Besessenheit ein, die ihr äusserlich ähnliche Anna sei die wiedergekommene Clara. Er sucht immer wieder ihre Nähe, will sie bei sich aufnehmen, zwingt ihr Claras Jacke auf und lässt sie bei einem Mittagessen mit Tochter und Schwiegersohn – eine der abgründigsten Szenen des Buches – auf dem Stuhl seiner verstorbenen Frau sitzen. Bis er sie schliesslich physisch bedrängt und vom Schwiegersohn, der dem absurden Treiben mit Missmut zusieht, Hausverbot erhält. Schliesslich verfolgt Giusep, von grässlichen Zahnschmerzen zusätzlich gepeinigt, die vermeintliche Clara ein tief verschneites Tobel hinab und stürzt dabei zu Tode. Anna, die weiss, was der Vorfall für sie bedeutet, spürt, in den Schnee gesunken, «wie die Schuld zwischen den Bäumen auf sie zu geschlichen kam, ein anklagendes, trauriges Wesen, nicht Mensch, nicht Tier, in Lumpen gehüllt».

Aus Mitleid wird Liebe
So ganz ohne Zeugen hätte das Geschehen Annas Verhaftung und womöglich Ausschaffung über die Grenze bedeutet, wenn da nicht jene andere Liebesgeschichte gewesen wäre, die in eben diesem Moment ihren Höhepunkt erreicht. Ganz langsam, scheu, ungewollt, unbewusst hatten Anton und Anna sich einander angenähert, und immer dann, wenn die junge Frau verzweifelt und trostbedürftig war, hatte sich die Beziehung im Gefolge von rein zufälligen Gesten und Berührungen ein wenig vertieft: Als sie ihm vom Tod ihres Kindes erzählt, umarmt er sie. Als er ihr erzählt, dass Derungs, der wüsteste der Intriganten, bei einer Schlägerei in der Beiz zu Tode gekommen ist, «schlingt er beide Arme um sie und legt seinen Kopf auf ihre Schulter». Und als sie ihm schliesslich bekennt, dass Giusep bei ihrer Verfolgung ins Tobel gestürzt ist, kommt es, ehe Anton hingeht und ihre Spuren am Tatort verwischt, zur einzigen wirklichen Liebesszene: «Wenn alles verloren ist, gibt es nichts mehr zu verlieren. Und Mund presste sich auf Mund. Haut suchte Haut.»

Lauter eindrückliche Figuren
Es ist dem wunderbaren Text gegenüber unfair, ihn auf diese beiden konträren Liebesbeziehungen zu reduzieren, sind doch nicht nur diese drei Figuren mit einer bildlichen, psychologischen und literarischen Feinheit und Raffinesse gezeichnet, die ihnen eine unmittelbare Glaubwürdigkeit vermittelt und ihr Handeln absolut plausibel erscheinen lässt.
Da ist auch diese behinderte Barbla, die nicht reden kann, aber in ihrem inneren Monolog alles betroffen und leidenschaftlich mitverfolgt. Ihre Sprache ist der Takt ihres Stocks. Und der «Hirnblitz» hat nur die eine Hand gelähmt und die andere lebendig gelassen. So dass Röthlisberger beim Kondolieren nach der Beerdigung ihres Vaters Giusep, den sie am tiefsten durchschaut hat, das wunderbare Bild schaffen kann: «Wer ihr die gesunde Hand schüttelte, konnte meinen, er habe irrtümlich die gelähmte angefasst.» Abgründig gezeichnet ist auch Barbigna, Giuseps Magd, die auch Barbla liebevoll betreut. «Ein Glück, dass es sie gab», heisst es am Anfang einmal von ihr, denn erst ganz am Schluss stellt sich heraus, dass sie die schlimmen Gerüchte über Anna verbreitet und sie auch bei der Polizei verzeigt hat, weil sie sich Hoffnung gemacht hatte, dass Giusep sie heirate.

Trügerische Menschlichkeit
Der Roman besitzt ein überraschendes, sich in einer einzigen Zeile andeutendes Happyend, das hier nicht verraten sein soll. Aber sein Wesentliches ist die sprachliche und bildmässige Wucht, mit der auf diesen 277 Seiten die Schrecken des Krieges auf intime, fast familiäre und doch parabelhafte Weise in ein verschontes Land hineingeholt werden.
«Die hier hatten einfach das Glück, nicht auf der anderen Seite des Berges geboren zu sein», sagt Anna einmal, und sie spricht damit nicht nur den Kern der Geschichte, sondern auch die Symbolkraft der Landschaft an, in welche sie hineingestellt ist. Beginnend mit der verzweifelten Flucht einer jungen Frau den Berg hinauf, dem Joch entgegen, hinter dem die Freiheit winkt, und ihr Gegenstück, ihren Höhepunkt erfahrend mit der panischen Flucht der gleichen Frau durch die Schrunden und Schneewehen des Abgrunds hinunter, wohin ein Mensch sie treibt, der nicht das in Not geratene Menschenkind, sondern ein Objekt der Begierde in ihr sieht.
Das Licht hinter den Bergen: es ist ebenso trügerisch wie die Menschlichkeit jener, die ihr Verschontsein mit Selbstgerechtigkeit statt mit Demut annehmen.

Info: Thomas Röthlisberger: «Das Licht hinter den Bergen». Roman. Edition Bücherlese, Luzern 2020. 277 S., Fr. 31.90.

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