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Musik

Mit Musik gegen Alzheimer

Juan Martínez Pérez war im Bern der 80er-Jahre Musiker und Teil der Jugendbewegung, dann arbeitete er als Übersetzer. Später schmiss er alles hin, um seine Mutter zu pflegen. Nun ist er auf Spotify erfolgreich.

Bild: Nicole Philipp

Martin Burkhalter

Die Gitarre war ihm oft ein Mast, an dem er sich festhalten konnte, während das Schiff von einem Sturm hin und her geschlagen wurde. So beschreibt Juan Martínez Pérez seine Gefühle, wenn er jetzt in seiner Wohnung auf die letzten fünf Jahre zurückblickt – fünf lebensverändernde Jahre grösstenteils an der Seite seiner an Alzheimer erkrankten Mutter in einem Dorf zwischen Valencia und Alicante.

Seine Geschichte erzählt davon, wie er seine Mutter verlor, aber seine Leidenschaft für die Musik wiedergewann.

 

Im Umfeld der Reitschule

Juan Martínez Pérez war Teil der revoltierenden Berner Jugend in den 80er-Jahren. Er bewegte sich im Dunstkreis der Reitschule, war unter anderem in der Gewerkschaft aktiv, half später mit, das Berner Stadtradio Rabe aufzubauen, und servierte jahrelang in der Brasserie Lorraine.

Allem voran aber war er Musiker und verdiente mit seinem Gitarrenspiel, das er einst bei Christy Doran, dem grossen irisch-schweizerischen Jazzgitarrenvirtuosen, gelernt hatte, in verschiedenen Bands seinen Lebensunterhalt. Neben David Brühlmann, Sänger von An Lár, war er mit dem eklektischen Rockduo Business for Lunch «eine Bereicherung der Schweizer Beizen-Szene», wie die «Berner Zeitung» im November 1994 schrieb.

Doch irgendwann ging die Band auseinander, die Zeiten und auch die Blickrichtung einzelner Musiker änderten sich, und Juan Martínez Pérez verlor die Begeisterung, wie er heute sagt. Er hängte seine Musikkarriere an den Nagel.

 

Die Diagnose

Als 2002 überraschend sein Vater starb, schlug er einen ganz anderen Weg ein und begann ein Übersetzerstudium, Spanisch, Französisch, Deutsch. Eine Arbeit, die zur Berufung wurde für die nächste Dekade. Er half etwa mit, eine Liveuntertitelungs-Software für verschiedene Fernsehsender in Europa zu entwickeln, auch für das Schweizer Fernsehen. Er gab Kurse und Weiterbildungen, war in ganz Europa unterwegs.

Ein Job, in dem er voll aufging. Wenn er etwas tue, sagt Juan Martínez Pérez, dann zu 100 Prozent. Irgendwann um das Jahr 2010 bemerkt er bei Telefonaten mit seiner Mutter, dass sie häufig Floskeln benutzt, dass sie ihn immer weniger zu verstehen scheint. Ein Arztbesuch bestätigt dann die Befürchtung: Alzheimer.

Die ersten fünf Jahre besucht er seine Mutter an der Costa Blanca noch alle zwei, drei Wochen, wechselt sich mit seinem Bruder ab. Ab 2015 ist die Krankheit so weit fortgeschritten, dass das nicht mehr genügt. Juan Martínez Pérez entscheidet sich, «alles hinzuschmeissen» und sich nur noch um seine Mutter zu kümmern.

Die Eltern, mitten im Spanischen Bürgerkrieg geboren, stammten beide aus kleinen Dörfern in Andalusien, trafen und verliebten sich aber erst später in Barcelona. Die Mutter war Schneiderin, der Vater Maschinenschlosser. 1963 gehörten sie zur ersten Generation der spanischen Arbeitsmigranten, die in die Schweiz kamen. Im Kanton Zürich bauten sie sich ein Leben auf. Juan Martínez Pérez kam drei Jahre später zur Welt, sein Bruder acht.

«Die Generation meiner Mutter hat so viel durchgemacht und so viel aus eigener Kraft aufgebaut», sagt Juan Martínez Pérez. «Ich wollte unbedingt etwas zurückgeben. Ich wollte meiner Mutter einen Abgang in Würde ermöglichen.»

 

Wundermittel Musik

Musik, das lernte er bald aus den Fachbüchern über Alzheimer, ist ein wahres Wundermittel. Melodien und Rhythmen können den Verlauf einer Demenz mildern. Alzheimerpatienten vergessen die Bedeutung einfachster Begriffe, Gesichter, irgendwann gar ihren eigenen Namen, doch an alte Volkslieder erinnern sich die Menschen noch gern und lang.

«Das Letzte, was man bei dieser Krankheit verliert, ist das musikalische Gedächtnis, die Melodien, die man ein Leben lang mitgetragen hat», sagt Juan Martínez Pérez. «Wir gingen spazieren, lachten und stritten uns, und wir machten zusammen Musik. Ich habe meiner Mutter extra eine kleine Trommel gekauft. Es war anstrengend, traurig und wunderschön.»

Kraft tankte er immer wieder bei der Musik, erst beim einsamen Gitarrespielen habe er aus sich herausgehen, Distanz schaffen können, sagt er. In den Nächten komponierte er neue Lieder, legte sich nach und nach ein Repertoire an. Irgendwann wusste er, dass er nichts anderes mehr will, als wieder Musik zu machen. Die alte Leidenschaft hatte ihn wieder.

 

Das neue Musikbusiness

Da seine letzte Karriere aber ein Vierteljahrhundert her ist, musste er sich zuerst auf den neuesten Stand bringen. Im Musikgeschäft hatte sich viel getan. «Das Album ist tot, es lebe der Song.» Das sei das Erste gewesen, was er gelernt habe, sagt er. So tastete er sich langsam an die neuen Medien heran, im Juni 2019 veröffentlichte er unter Elson Complex seine erste Single, dann immer eine weitere im Abstand von drei bis vier Wochen, so wie der Algorithmus der verschiedenen Streamingdienste es mag.

Einige Lieder nahm er mit anderen Musikern auf, die so zu Multiplikatoren wurden. Inzwischen sind seine Songs in über 800 Playlists vertreten. Er hat derzeit bei Spotify mehr als 46 000 monatliche Hörerinnen und Hörer in der ganzen Welt. Letzte Woche erreichte er einen ersten, kleinen Meilenstein, er knackte die Eine-Million-Streams-Marke. Es ist erst ein Anfang, aber ein äusserst vielversprechender.

Seinen minimalistischen Flamenco, gemischt mit Folk-, Blues-, Rock- und Ambient-Elementen, kann man aufmerksam wie eine Jazzplatte hören, man kann ihn zur Meditation nutzen, zur Entspannung oder als Hintergrundmusik zur Lektüre. Es sind wunderschöne, unaufgeregte, rein instrumentale Stücke, die von der Stille zwischen den Tönen leben, die gerade in den Pausen ihre Geschichten entfalten.

Seine Mutter ist letzten Frühling gestorben.

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