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Literatur

Nach Russland und zurück ins Ancien Régime

Auf Basis der Erinnerungen des 2019 verstorbenen Niklaus von Steiger hat Inga Häusermann die Geschichte einer bernisch-russischen Familie nacherzählt – auf ebenso spannende wie gutgläubige Weise.

Niklaus von Steiger (mitte) um 1940 in Genf. Bild: zvg

Charles Linsmayer

Auf dem Cover ist ein Zehnjähriger zu sehen, dunkler Anzug, kurze Hosen, quadratisch gemusterte Kniesocken. Links und rechts von ihm ein elegantes Paar in den Fünfzigern, im Hintergrund das 1968 niedergerissene Hôtel de Russie am Quai du Mont Blanc in Genf. «Nikolka» heisst das Buch, und das um 1940 entstandene Cover-Bild zeigt den Schulbuben mit diesem Kosenamen, der in Wirklichkeit Niklaus von Steiger hiess und 1933 in Bern zur Welt gekommen war, wo er 2019 86-jährig auch starb. Das Hôtel de Russie verweist, vielleicht eher zufällig, auf einen Umstand, der für den jungen Mann mit dem alten Berner Patriziernamen von entscheidender Bedeutung war – repräsentierte er doch eine jener Berner Familien, die ins Zarenreich ausgewandert waren und von der russischen Revolution nach dem Ersten Weltkrieg wieder in ihre alte Heimat zurückvertrieben wurden. Im Roman «Konradin» hat Cécile Ines Loos 1943 das Schicksal der Berner Russlandheimkehrerfamilie Faesy-Luchsinger romanhaft umgesetzt, und jenem Zweig der Berner Familie von Steiger, der im Zarenreich zu Vermögen und Ansehen gekommen war, hat die 1971 in Langenthal geborene, in Biel lebende Künstlerin Inga Häusermann nun unter dem Titel «Nikolka» ein literarisches Denkmal gesetzt.

 

Auf einem Spaziergang durch Bern

Durch eine Freundin hat sie kurz vor seinem Tod Niklaus von Steiger kennengelernt, und in ihrem Buch, den Roman zu nennen man eher zögert, lässt sie ihn als Erzähler und Gesprächspartner auftreten, mit dem zusammen sie das Bern von heute auf der Suche nach Spuren von jener Odyssee durchwandert, die aus einer Berner Familie eine russische gemacht hatte.

Inga Häusermann, ganz die auf Anschaulichkeit erpichte Künstlerin, macht aus ihrem eloquenten Cicerone ein Musterbeispiel für jene aristokratische Lebensart, auf die sich die «Bernburger» und insbesondere die «schwarze» und «weisse Linie» der von Steigers, die seit dem 15. Jahrhundert unzählige Politiker und Offiziere in allen möglichen Diensten und auch noch den letzten Schultheiss des alten Bern, Niklaus Friedrich von Steiger (1729-1799) gestellt haben, nicht wenig einbildeten. «Den Stock mit dem Elfenbeinknauf in der rechten Hand», schreitet der alte Mann, poetische und historische Aperçus von sich gebend, durch das Bern des 21. Jahrhunderts, und «trotz seines etwas unsicheren Ganges strahlte er Würde und etwas bescheiden Aristokratisches aus.» Dem Bernisch-Aristokratischen ist bei Nikolka aber jenes Russische beigegeben, das sich seine Familie angeeignet hat: Im Wohnzimmer vermittelt eine uralte Ikone «eine Aura von Erhabenheit und innerer Stille», und an Biographischem erfährt man über ihn selbst, dass er, als Sohn des Russlandheimkehrers Wladimir von Steiger, geboren, zunächst nur Russisch sprach, dann aber, nachdem die Eltern Bankrott gemacht hatten, im Waisenhaus der Burgergemeinde aufgewachsen war, ehe er eine Karriere als Bankbeamter machte, sich aber auch für eine alternative Berner Kultur einsetzte, sich seinem Cousin Sergius Golowin und dem Maler Franz Gertsch anschloss und zu den Initianten des legendären linken Kellertheaters «Junkere 37» gehörte.

Das Russische hatte sein Ururgrossvater Friedrich Rudolf von Steiger (1787-1869) in die Familie gebracht, als dieser, ursprünglich Schaffner in Frienisberg und Berner Grossrat, 1822 mit Frau und sieben Kindern nach Jaroslawl bei Moskau auswanderte, Verwalter der zaristischen Krongüter, Direktor einer Landwirtschaftsschule, kaiserlicher Hofrat und, nach dem Übertritt zur russisch-orthodoxen Kirche, auch russischer Bürger wurde. Die Liebe zu Russland war auf einer früheren Reise in ihm geweckt worden, als man ihn an der «Masleniza», der «Butterwoche» hatte teilnehmen lassen, bei der in einer wilden Völlerei ein riesiger Berg aus Pfannkuchen und ebensolche Mengen von Wodka verschlugen werden. «Dieses Land gefällt mir, hier will ich hinziehen», soll er daraufhin gesagt haben.

 

Erfolgreich bis zur Revolution

Einer seiner Söhne, Nikolkas Urgrossvater Eduard von Steiger (1819-1879), brachte es zum Direktor der Schwarzmeerhandelsflotte in Konstantinopel, während sein Grossvater, Nikolai von Steiger (1865-1944) in der russischen Armee Karriere machte und als Kaufmann in Odessa zu einem Vermögen kam. Sein Vater aber, Wladimir von Steiger (1892-1950), floh nach dem Untergang des Zarenreichs in die Türkei und kam 1928 von dort auf Kosten einer Berner Zunft als Tuberkulosepatient nach Heiligenschwendi. Wieder genesen, blieb er mit seiner Verlobten und baldigen Ehefrau Walentina Sorokina als Inhaber eines Lebensmittelgeschäfts in Bern, konnte allerdings seiner Spielsucht nicht Herr werden und machte Bankrott. 1942 reiste er als Vertreter des Roten Kreuzes nach Bukarest, wo er sich niederliess und mit nicht näher umschriebenen Geschäften bald wieder zu Geld und Vermögen kam. 1947 aber stellte ihn Rumänien im Zusammenhang mit dem Winterthurer Prozess gegen den rumänischen Doppelagenten Vitianu alias Salomon Witzmann vor Gericht, beschlagnahmte sein Vermögen und wies ihn in eine Strafanstalt ein, wo er 1950 starb.

 

Mitgegangen, mitgehangen

Die Berner Aristokraten fanden 1822 in Russland mit seiner reaktionären Adelsherrschaft und Millionen von leibeigenen Bauern eine Situation vor, die nur allzu deutlich an die Zeit des Ancien Régimes in der Schweiz erinnerte, dessen Untergang die Bernburger noch längst nicht wirklich verdaut hatten. Ganz selbstverständlich dienten sie sich dem russischen Regime an, gaben demokratische Gesinnung und protestantische Religion preis und stiegen als Teilhaber der zaristischen Macht erstaunlich schnell in die höchsten Kreise vor. So dass es nur logisch war, dass auch sie nach der Wende von 1917 wieder alles verloren und sich nach Westen absetzen mussten. Nicht anders scheint es nach 1942 ihrem Nachfahren, Nikolkas Vater Vladimir, gegangen zu sein, der während der Militärdiktatur des mit Hitler verbündeten Ion Antonescu (1882-1946) und seiner berüchtigten «Eisernen Garde» in Rumänien zu neuem Reichtum gelangte. Auch er muss sich angepasst haben, und auch er kam zu Fall, als auch in Rumänien nach dem Einmarsch der Russen der Kommunismus an die Macht kam.

Von all dem ist in Inga Häusermanns Buch nur indirekt die Rede, verlässt sich die historisch offenbar nur mangelhaft versierte Autorin doch 100-prozentig auf jenen Nikolka mit seinen aristokratischen Allüren, der nicht einmal den richtigen Namen jenes Rumänen nennt, der seinem Vater zum Schicksal wurde. Dennoch ist es erstaunlich, was diesem Niklaus von Steiger wenige Monate vor seinem Tod gelang: Obwohl er selbst sich als junger Mann mit dem Einsatz für die «Junkere 37» ganz offenbar für jene nonkonformistische linke Weltanschauung hatte begeistern können, die dem aristokratischen Gehabe seiner Vorfahren ein Ende bereit hatte, gelang es ihm dank seiner Bieler Protokollantin, die alles, was er sagte, für bare Münze nahm, das Märchen von den Berner Aristokraten zu hinterlassen, die furchtbar viel schlimme, aber auch schöne Dinge erlebten, zu echten und aufrechten Russen geworden waren und durch die Revolution ihre neue Heimat und ihr Ideal einer aristokratischen Herrschaft ungerechterweise verloren hatten. Dass der Mann, der auf dem Cover des Buches mit Nikolka über die Genfer Montblanc-Brücke schreitet, etwas Ähnliches nochmals im faschistischen Rumänien versucht hat und damit ein schlimmes Ende nahm, hat der Mann, der 80 Jahre später als letzter Zeuge seiner Familiengeschichte an seinem Stock mit Elfenbeinknauf durch Bern spaziert, offenbar ebenso beschönigt wie das Engagement der von Steigers im russischen Zarenreich.

 

Imaginäres Fest mit Bulgakow

Am Ende lässt Inga Häusermann die ganze Sippe der von Steiger an einem imaginären Fest nochmals zusammenkommen. Mit von der Partie sind auch der Schriftsteller «Genosse Michael Bulgakow» und Boris von Steiger, der als einziger der Familie die Revolution überlebt, unter Lenin Volkskommissar für Kunst und Wissenschaft geworden war und als Spitzel und Doppelagent in Bulgakows Roman «Meister und Margarita» Eingang gefunden hat. Darauf spielt Bulgakow nun an und vermutet, dass sein Roman den zum Kommunismus bekehrten Aristokraten, der 1937 hingerichtet wurde, den Kopf gekostet haben könnte. «Du überschätzt die Schriftstellerei» erwidert von Steiger darauf, «ich war schon lange im Visier des Ministeriums. Und überhaupt, es waren wirre Zeiten. Jeder musste schauen, wie er über die Runden kam. Und schliesslich wird auch Deine Weste nicht blütenweiss geblieben sein.» Eine Vermutung, die wohl für die ganzen russischen von Steigers Gültigkeit gehabt haben dürfte, ob im zaristischen und im kommunistischen Russland oder im Rumänien der «Eisernen Garden» – auch wenn der letzte von ihnen dank Inga Häusermann einen verklärenden Mantel über all das hat breiten können.

Info: Inga Häusermann: «Nikolka. Niklaus von Steiger. Eine bernisch-russische Familienodyssee», Verlag Hier und Jetzt, 2021, 39 Franken. Morgen ab 18 Uhr gibt die Autorin in der «La Voirie» an der Brunngasse 1 in Biel Einblick in ihr Buch und liest daraus vor.

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