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Literatur

Nebel, Kälte, Träume und die Abgründe des Lebens

Rut Ploudas Prosaband «Moosgrün» ermöglicht die Begegnung mit einer rätoromanischen Autorin. Sie überzeugt mit aussergewöhnlicher Könnerschaft und sprachlicher Virtuosität.

Symbolbild: pixabay.com

Charles Linsmayer

Als kleines Mädchen beschloss sie, «etwas Neues zu schaffen, etwas Einzigartiges.» «Also holte sie Papier und Bleistift und setzte sich an den Stubentisch.» Sie schrieb ein Leben lang, «die Stunden vor dem weissen Blatt wurden immer mühsamer.» Und bis zuletzt weiss sie noch immer nicht, «wie man gute Texte schreibt». Bei Virginia Woolf findet sie die Nachricht, dass die englische Dichterin den Engel, der ihr ins Ohr flüsterte, «was sie schreiben darf und was sie schreiben soll», mit dem Tintenfass erschlagen habe. Die Schreibende, nach vielen Jahren, hat kein Tintenfass mehr, aber vielleicht lässt sich der vermaledeite Hausengel mit dem Laptop erschlagen? «Einen Versuch ist es wert!»

 

Bilder wie Filmsequenzen

«Ein Versuch» ist einer der Texte von Rut Ploudas Kurzprosa «Moosgrün», der von Claire Hauser Pult ins Deutsche übersetzten Auswahl aus dem im unterengadinischen Idiom Vallader verfassten, 2020 in der Churer Chasa Editura Rumantscha erschienenen Band «Verd s-chür». Es sind 58 Prosatexte, der längste sieben Seiten, die meisten nur eine, höchstens zwei Seiten lang, und sie handeln, scheinbar zufällig hingesetzt, von Farben, Erinnerungen, Träumen, Wörtern, Gefühlen, Landschaften und vor allem von Momenten gelebten Lebens, die wie eine Filmsequenz vor einem aufsteigen, um gleich wieder zu verdämmern. Einmal ist es eine Sie, dann heisst sie Anna, ganz selten auch ein Ich, und fasziniert und bewegt erleben wir mit, was ihr geschieht, was sie erlebt, was sie sich ausdenkt.

Da gehen wir mit ihr an einem Märztag in einer Berglandschaft durch einen dicken Nebel, einen Nebel, «der ihr nur den Weg und seine Ränder überlässt. Sie geht weiter, Schritt für Schritt. Keine Raben. Keine Alpendohlen. Nur diese Stille.» Dann werden wir zurückversetzt an einen Sonntag in den Kinderzeiten, «mit dem Geruch von Braten und Kartoffelstock, mit den Strümpfen aus Schafwolle, die in die Haut stachen und die mich jedes Mal schaudern machten wenn ich mich in der Kirche bewegen musste, auf und nieder, auf die Knie, aufstehen, absitzen ...» Wir werden erinnert, wie das war, wenn wir eine Schallplatte laufen liessen, «der Arm die Nadel langsam an den Rand der Platte legte, die sich zu bewegen beginnt», bis die Melodie erklingt, «die von weit weg zu kommen scheint». Und auf einmal erfahren wir hautnah, wie es sich anfühlt, wenn eine Frau auf dem Operationstisch liegt und der Geburt ihres Kindes entgegensieht. «Dumpfe Geräusche kamen von weither und mischten sich mit der bleichen Farbe eines Spiegels über ihr. Die Töne schossen ins Eigelb wie tausend trübe Tropfen, verwandelten sich in farbige Zickzacke, die ins Eiweiss hineinspritzten.»

Vielleicht sind es nicht drastische Momente wie dieser oder die intensiv nachgelebten Augenblicke auf einer Intensivstation, die am stärksten nachwirken in diesem schmalen Band. Denn ihre überzeugendste Wirkung entfaltet Rut Ploudas Prosa im Leisen, Beiläufigen, in auf wenige Momente und Andeutungen reduzierten Skizzen.

 

Wie sich Kälte anfühlt

Etwa in jener mit dem Titel «Kälte», die mit den drei Kennzeichnungen «Es ist Sonntag. Es ist Mittag. Es ist Winter» eingeleitet wird und dann anhand eines Spaziergangs dem Inn entlang auf unerhört eindringliche, poetisch grossartige Weise evoziert, was Kälte ist: «…du gehst immer weiter und das Wasser des Inns fliesst Dir entgegen, langsam und leise zwischen den Ufern, zwischen Schnee und Eis dahin, du gehst unter blauem Himmel, deine Füsse gehen, aber sie gehören nicht mehr zu dir, nichts gehört mehr zu dir, nur die Eiseskälte, die dein Schmerz ist.»

Es sind nicht nur die prägnant wiedergegebenen Stimmungen und Gefühle, die Rut Ploudas Prosa zu etwas Besonderem machen. Es ist vor allem auch ihr bewusster, auf eine ebenso persönliche wie philosophisch einsichtsvolle Weise durchdachter Umgang mit der Sprache, der beeindruckt.

Wenn sie ein Wort wie «Biografie» auf ihre Möglichkeiten hin befragt und dabei von der eigenen Lebensgeschichte auf die eines Schafs gelangt und diese bis zu dem Moment, «wo sie es an seinem Todestag in eine Kiste verladen und in die Metzgerei bringen» weitererzählt. Oder wenn sie Überlegungen zum Wort «Gesicht» anstellt und da auf jenes stösst, «das man immer behüten muss. Es ist jenes, das man verlieren könnte. Und wer wollte das Gesicht verlieren?»

Schön auch, was Rut Plouda zum Thema Farbe einfällt. Wenn gelb sie nicht nur an Kornfelder und Löwenzahn, sondern auch an die Zigarettenmarke Mary Long erinnert: «Die Packung war gelb und kostete einen Franken zwanzig. Sie hatte kein Geld. Aber für Mary Long schon.»

Oder wenn sie bei blau, fast ein bisschen zynisch und unkorrekt, vom Blau der Enziane zu den Bluejeans gelangt: «Eine Invasion von Uniformen für Leute ohne Uniform. Bluejeans für pralle Hintern und flache Hintern, immer praktisch und nie umständlich.»

 

Harmloses und Abgründiges

Das Spektrum, das dieser Band eröffnet, ist breit und weit und kennt weder nach unten noch nach oben eine Grenze. Und selbst das scheinbar Harmloseste kann unvermittelt Abgründe öffnen, über die einem Angst und bange werden kann. Wenn das Wort Polenta die Autorin an den plötzlichen Tod des Grossvaters erinnert, das Stichwort Europa nicht nur Monet, Dante und die Schwestern Brontë, sondern auch «Flüchtlingskolonnen auf langen Wegen von Hunger und Mühsal, Stacheldrahtzäune und Konzentrationslager» mit umfasst, und auch das Wort Grenze in der Autorin «ziemlich zwiespältige Gedanken und Gefühle weckt».

Erinnerungen, die von der Grenze im Val Müstair mit den elegant uniformierten Carabinieri auf der andern Seite und von den Köstlichkeiten handeln, die die Kinder in einem italienisch-tirolerischen Restaurant vorgesetzt bekamen, bis die liebevoll-romantisierenden Reminiszenzen in den Satz münden: «Wie wird es wohl für jene sein, die eine solche Grenze überqueren müssen, wenn es um Leben und Tod geht?»

Rut Plouda ist 1948 in Tarasp geboren, lebt als Lehrerin, Bäuerin und Mutter von drei Kindern in Ftan. Erstmals über Graubünden hinaus bekannt wurde sie 2000 mit «Sco scha nüglia nu füss»/«Wie wenn nichts wäre», den Erinnerungen an ihren mongoloiden Sohn, der mit 19 Jahren starb.

Mit dem Band «Moosgrün» wird ihr Schaffen nun erstmals seiner ganzen Breite und Vielfalt und in einer Weise für ein weiteres Publikum zugänglich, die beweist, dass ihr tatsächlich auf überzeugende Weise gelungen ist, was sie sich als kleines Mädchen am Stubentisch mit Bleistift und Papier vorgenommen hat: «etwas Neues und Einzigartiges zu schaffen».

Info: Rut Plouda, «Moosgrün. Kurzprosa, aus dem Rätoromanischen von Claire Hauser Pult, Edition Bücherlese, Luzern 2021, 112 Seiten, Fr. 28.90.

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