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Biel

Neue Kunst im alten Haus

In die ehemalige Isoma-Fabrik im Lindenquartier ist Leben zurückgekehrt. Über 40 Kunstschaffende haben sich während drei Wochen von den alten Mauern inspirieren lassen. Heute ist Vernissage.

Copyright: Matthias Käser / Bieler Tagblatt

Vera Urweider

«Ich sammle die Farben des Hauses», sagt sie, lächelt, und rührt weiter im Töpfchen mit der roten Farbe. Auf dem Tischchen stehen bereits Fläschchen mit Dunkel- und Hellgrau, Gelb, Dunkel- und Hellblau. Sie hat sich für einen der kleinen Räume entschieden. Einen der kleinen Räume im über 2000-Quadratmeter grossen leeren Haus. Sarah Fuhrimann ist eine von über 40 Künstler und Künstlerinnen, die zurzeit die ehemalige Isoma-Fabrik am Finkenweg im Lindenquartier zu beleben versucht.

 

Montreux gegen Stuttgart

Seit dem 26. Oktober ist Bewegung im Hause. Ein Haus, das eine lange Geschichte erzählen kann. 1876 stand ein erstes Gebäude da, zehn Jahre später wurde es vergrössert und schliesslich zum «Familien-Restaurant zur Linde» mit Gästezimmern ausgebaut, ein wenig abseits von der damaligen Stadt im Grünen, zum Entspannen. Später soll auch ein Tanzsaal drin gewesen sein, noch später wurde das Gebäude als Feuerwehrkaserne genutzt, ein Eisfeld daneben, welches sommers als Rollhockey-Feld diente, auf dem 1933 gar der Match Montreux gegen Stuttgart ausgetragen wurde. 1940 schliesst die «Linde». Die Stadt ist an das prägende Gebäude heran- und ringsherumgewachsen, ist neu Besitzerin der Liegenschaft, das Lindenquartier entstand, und fortan wurden erst Neonröhren, später mikro-optische Präzisionsmessgeräte hergestellt.

Nun hat das Haus ausgedient. Fertiggelebt. Es soll erst wegen der Kontamination saniert werden und schliesslich irgendwann einem Neubau weichen. Wann genau, ist laut Finanzdirektorin Silvia Steidle noch nicht klar. Und was genau danach hinkommt – ein Schulgebäude vielleicht oder Wohnungen –, auch noch nicht. Doch so viel sei sicher: «Bis es abgerissen wird, soll es künstlerischen Projekten, Quartiersinitiativen oder Ähnlichem zur Verfügung stehen», so Steidle.

 

Der Anfang

«Entre les temps – zwischen den Zeiten» heisst nun das aktuelle und überhaupt erste künstlerische Projekte in der ehemaligen Fabrik. Ein Projekt, initiiert vom gleichnamigen Verein, der sich im Juni dieses Jahres gegründet hatte, genau zu diesem Zweck. Leerstehende Gebäude, die dem Tod geweiht sind, einen letzten Lebenshauch einflössen. Ein letztes Mal wertschätzen. Ein letztes Mal beleben. Nicht bewohnen. Das sei klar. Doch tagtäglich präsent sein und sich von den alten Mauern, dem Knarren der Böden, dem Quietschen der Türen, dem stetig rauschenden Wasser im Pissoir oder der vielschichtigen Geschichte des Hauses inspirieren lassen. Die Isoma-Fabrik soll nur der Anfang sein.

«Wir wollten keine fertigen Ausstellungen kuratieren oder private Ateliers gründen», so Carolina Borer, die für die Kommunikation des Vereins verantwortlich zeichnet. «Es geht vielmehr darum, dass Kunstschaffende in einen Dialog mit dem Ort treten, seine Geschichte aufnehmen und schliesslich ganz persönlich wiedergeben», fügt Samuel Cacciabue an. Er ist Bieler Installationskünstler und zusammen mit Borer der Kopf des Projektes. Ob zuerst die Idee überhaupt zu «zwischen den zeiten» da war oder ob die Idee sich mit der Isoma-Fabrik entwickelt habe, das verhalte sich in etwa so wie mit dem Huhn und dem Ei. «Als Künstler habe ich natürlich immer Augen und Ohren offen für spannende und inspirierende Orte», sagt er, «und dem Abriss geweihte, leer vor sich hinstehende Gebäude sind nun mal genau solche Orte.»

 

Inspirationsquelle «Haus»

2014 zieht Isoma aus. Cacciabue ist Anwohner und bemerkt dies schnell, er will sein Projekt starten. Fast fünf Jahre vergehen, Abklärungen mit Isoma stehen im Weg. Die Stadt jedoch, die sei immer zuvorkommend gewesen. Und schliesslich bekommt er die Zusage. Ein Verein muss her und die Organisation beginnt. Von September bis Dezember darf «zwischen den Zeiten» in den alten Mauern wirken. «Eigentlich wollten wir kleiner beginnen, nur mit befreundeten Künstlern», sagt er, «doch das Haus ist so riesig, da wären wir wohl ersoffen.» Mund zu Mund verbreitet sich die Botschaft in der Schweizer Kunst-, Musik-, Tanz-, Literatur und Performanceszene und «plötzlich waren wir ganz viele».

Ganz viele, die wissen: Das ist ein Ort, der bietet Raum und Geschichte, doch kein finanzielles Hallelujah. Zwar unterstützen unter anderen die Stadt oder das Migros Kulturprozent das Projekt, doch reicht es bei weitem nicht für angemessene Gagen und Honorare. So ist das Herz des Projektes laut Cacciabue und Borer ganz klar: Freude am Ort und Grosszügigkeit. Und das spüren sie, da sind sie sich einig.

So hat während der vergangenen drei Wochen beispielsweise eine Fotografin die Geschichte des Hauses bildlich festgehalten und aufgearbeitet, Installationskünstler haben sich von ausgedienten Heizungen inspirieren lassen, die Wand im Treppenhaus diente einer bildenden Künstlerin als Grundlage für ein nicht enden wollendes Gemälde, Cacciabue selber installierte ein Mobile aus alten und noch älteren, roten und rostigen leeren Feuerlöschern, das sich beim Betreten des Raumes bewegt und glockenartig ertönt. Zum Erklingen brachten die Räume auch verschiedene Musiker, Lesende oder Performancekünstler.

Besucher und Besucherinnen hatten bereits während des ganzen Entstehungsprozesses die Möglichkeit mitzuverfolgen, wie das Haus zwischen Vergangenheit und Zukunft, – «zwischen den zeiten» – nochmals wiederbelebt wird.

 

Einladung zur Reise

Ab der heutigen Vernissage und während der kommenden zwei Wochen kann man nun die fertigen Arbeiten betrachten und weiteren Konzerten lauschen, sich auf eine Reise einlassen, vielleicht auch mal die Augen schliessen, sich vorstellen wie das war, als das Haus noch die «Linde» war, auf dem Lande, im Grünen, wie es wohl roch, als es zur Fabrik wurde; und ganz bestimmt spürt man – sei’s mit offenen oder geschlossenen Augen – noch etwas von der vergangenen Eisbahnkälte, obschon nun lebende Wärme Einzug gehalten hat.

Info: Vernissage heute ab 15 Uhr, Konzert um 17 Uhr, Finkenweg 7, Biel. Weiteres Programm bis 30. November: https://entrelestemps.wixsite.com/entrelestemps

Stichwörter: Kunst, Kultur, Biel, Fabrik

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