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Musik

Niemals würde sie sagen, sie habe dies alleine geschafft

Altisländische Gesänge vom Kirchturm in Siglufjörður verbinden sich mit den Muezzinen von Dakar, und dazwischen schwebt die Stimme der Bieler Sängerin Rea Dubach: Das ist «GÓI», und das ist sogar Pop, auf eine gewisse Weise.

Ihr ist wohler mit wenig Bühnenlicht: Rea löst sich von der klassischen Konzertsituation.  zvg
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Tobias Graden

Vogelgezwitscher. So beginnt dieses Album, mit Vogelgezwitscher. Es wird einen die ganze Zeit begleiten, über praktisch die ganze Dauer. Das kommt nicht von ungefähr: Entstanden ist diese Musik vornehmlich in Island. Und wer in Island durch die Landschaft wandert, der hört vor allem Vogelgezwitscher. Rea Dubach ist es jedenfalls so ergangen. Immer wieder Vogelgezwitscher, den ganzen Tag über und auch durch die Nacht, die in Islands Sommer ja keine ist, weil ständig ist es hell, und das wiederum regt die Vögel zum Zwitschern an.

Ab in die geistige Heimat
«GÓI» heisst das Album, es ist das erste Solowerk der Bieler Sängerin, aber die Vorstellung, wonach sie alles selber bewerkstelligt habe, weist sie von sich, doch davon später. Am Anfang war da nämlich schon sehr der Gedanke, mal etwas alleine zu machen. Dubach nennt das Werk, das kürzlich erschienen ist und morgen Abend am Berner Saint-Ghetto-Festival getauft wird, ihren «Befreiungsschlag». Stets hatte sie die letzten Jahre mit anderen Menschen zusammengearbeitet, war in Kollaborationen tätig, passte sich an, ging auf Mitmusikerinnen und Mitmusiker ein. «Ich wollte es ja so», sagt sie, «aber am Ende einer Produktion dachte ich jeweils: Mit mir selber hat das am Ende nicht mehr viel zu tun.»

Gewiss, sie hatte seit acht Jahren auch an Solo-Sachen gearbeitet, «aber dass diese ihren eigenen Wert haben, ist mir noch nicht so lange bewusst», sagt Dubach, die als Künstlerin unter ihrem Vornamen auftritt. Es bestanden Ideen, in ihrem Atelier fanden diese gerüstartig eine Grundform, doch Rea merkte: Ich muss weg, hier ist es zu eng, es hat hier zu viele Leute, zu viele gutgemeinte Meinungen.

Darum Island. Es ist ihr «eine Art geistige und physische Heimat», sagt sie, «verorten kann ich das nicht, schon gar nicht biographisch, aber es fühlt sich so an.» Für das Bandprojekt Síd und dessen Album «Vòluspá» von 2017 hatte sie altisländisch gelernt und den alten nordischen Sagenkomplex der Edda vertont. Und nun lag es auf der Hand, sich den Soloplänen in Island zu widmen. Aber nicht etwa in der Hauptstadt Reykjavik, sondern ganz im Norden, im 300-Seelen-Ort Siglufjörður. «Als ich ankam, kannte ich dort niemanden», sagt Rea, «als ich ging, kannte ich alle.»

Sie macht es wie die Pilze
Während sich Rea zuvor den alten isländischen Gesängen auf einer eher theoretischen Ebene gewidmet hatte, holten diese sie in Siglufjörður auf eine ganz praktische Weise wieder ein: Im Sommer beschallt das dortige Isländische Volksmusikzentrum den Ort mit Lautsprechern vom Kirchturm aus zweimal täglich mit alten Liedern. Es klingt wie ein nordischer Muezzin. Auch auf «GÓI» findet sich altisländischer Gesang, Rea nahm in ihrem Heimstudio zwei singende Freunde auf.

Immer wieder reiste Rea in den letzten drei Jahren nach Siglufjörður und arbeitete an ihrem Album, zu allen Jahreszeiten. Im Januar letzten Jahres dann schlug ihr Freund vor: Komm, wir gehen nach Senegal. Draussen war es bei Rea gerade weit unter null Grad und es lagen vier Meter Schnee. Das Paar verbrachte kurze Zeit später einen Monat in Afrika, und auch das ist auf «GÓI» zu hören – nun erklingen echte Muezzine, es ist ein starker Kontrast.

Man könnte Rea nun vorwerfen, sie sammle oberflächlich irgendwo irgendwelche Klänge ein und verarbeite diese in ihrer Musik. Aber das griffe zu kurz, ebenso wie ihr der Begriff «Soloprojekt» zu kurz greift. «Niemals käme es mir in den Sinn zu behaupten, ich hätte alles alleine bewerkstelligt», sagt die Künstlerin. Wenn «GÓI» einem Konzept folgt, dann jenem der «Verbundenheit»: «Damit habe ich mich auf konzeptueller, kultureller und persönlicher Ebene auseinan dergesetzt.» Ganz viele Menschen hätten mitgeholfen, dieses Album zu realisieren, von den ersten zufälligen Kontakten nach Island über jene, die ihr dort Aufnahmen in einem alten Öltank ermöglichten bis hin zu Yannick Mosimann und Fra Zedde, die ihren morgigen Auftritt in der Berner Dampfzentrale mit Visuals und Elektronik unterstützen. «Ich sehe tausend Fäden, die ich verknüpfe», sagt Rea und vergleicht ihre Arbeit dem unterirdischen Netzwerk von Pilzen, die damit auch über grosse Distanzen kommunizieren können.

So betrachtet sind die Muezzine in Dakar gar nicht so sehr ein Gegensatz, sondern sie verbinden sich mit den altisländischen Gesängen von der Kirche in Siglufjörður.

Songs im weitesten Sinne
Rea verwendet auf «GÓI» also so genannte Field Recordings, verarbeitet diese mittels Elektronik und singt dazu – im Gegensatz zum Band-Album «Vòluspá» wirkt das Solowerk ruhiger, sphärischer, unkonventioneller, und doch sprechen die Saint-Ghetto-Veranstalter von «Popmusik», wenn auch im experimentellen Sinne. Dubach findet das gar nicht so abwegig: «Wenn ich wollte, könnte ich dieses Material zu Popsongs verarbeiten. Aber das will ich natürlich nicht.» Erstmals hat die Sängerin eigene, englische Texte vertont, und sie selber nennt die Stücke «Songs im weitesten Sinne», die sie von ursprünglich je 20 Minuten auf halbwegs herkömmliche Längen zwischen dreieinhalb und knapp acht Minuten eingedampft hat.

Anders als im Pop aber wird es die Musik gar nie so zu hören geben, wie sie auf «GÓI» zu finden ist. Reas Arbeitsweise funktioniert intuitiv, die Struktur ergibt sich laufend, selbst die Texte sind nicht in Stein gemeisselt. «Ich weiss im Voraus nie genau, was ich mache», sagt die Sängerin, «mein Umgang ist ein spielerischer.» Für Veranstalter ist das nicht einfach, oft gibt ihnen Rea noch kurzfristig technische Änderungen durch, und sie tritt nur dort auf, wo sie die Art des Konzerts selber bestimmen darf.

Konzert mit Quadrophonie
Klassische Konzertsituationen – vorne die Bühne und die Künstler, hinten das Publikum – interessieren sie nämlich nicht mehr: «Das fühlt sich anmassend an und ist visuell nicht so spannend. Ich suche lieber den direkten Austausch mit dem Publikum.» Und so spielt sie die Konzerte mit möglichst wenig Bühnenlicht, sie befindet sich im Zentrum, ist nicht allein, und der Klang soll idealerweise mittels Quadrophonie von rundherum kommen. Die isländischen Vögel, sie fliegen bei Rea durch den Raum.

Info:Rea: «GÓI» (Blau Blau Records). Konzert morgen Abend um 20 Uhr am Saint Ghetto Festival, Dampfzentrale, Bern, mit Merz.

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