Sie sind hier

Abo

Heimkino

"The Queen's Gambit": Die stärkste Figur

Die Netflix-Serie, von der momentan alle reden, erzählt vom Weg eines Waisenkindes zur Schachmeisterin. Hervorragend gespielt, unterhaltsam auch für Nichtspielerinnen und Nichtspieler – und mit überraschendem Bezug zu Biel.

Eine der vielversprechendsten Schauspielerinnen unserer Zeit: Anya Taylor-Joy.

von Dominic Schmid

Schach hat eine ganz eigene Dramaturgie, die aber jener einer Serie vielleicht gar nicht so unähnlich ist. Alle Figuren werden sauber nebeneinander aufgestellt, ein paar höfliche Rituale müssen ausgeführt werden. Dann startet jemand die Uhr und das Spiel beginnt. Ein paar vorsichtige Züge zuerst, die allesamt bedeutsame, aber noch unbekannte Auswirkungen auf den Verlauf haben werden. Nach einer kurzen Weile des vorsichtigen Abtastens beginnt die wirkliche Partie. Frontale Angriffe dienen zur Ablenkung, während hinterhältige Manöver beginnen, das Feld zu lichten. Im Endspiel sind die Spieler dann besser oder schlechter aufgestellt, je nach dem, wie vorausschauend sie am Anfang agiert haben.

Der Vergleich mag etwas brüchig sein, zumal nicht ganz klar ist, welche Rolle Serienmacherinnen und Serienmacher, Schauspielerinnen und Schauspieler, Figuren und das Publikum in diesem genau spielen. Aber man kann sagen, dass «The Queen’s Gambit» von Beginn weg eine hervorragende Partie spielt. Das liegt vor allem am unerschrockenen Einsatz der Damenfigur, die am Ende nicht nur den gegnerischen König, sondern trotz ihrer Rücksichtslosigkeit auch unsere Herzen bezwingt.

Aber von Anfang an: Mitte der 50er- Jahre kommt in Kentucky die neunjährige Beth Harmon (Isla Johnston) ins Waisenhaus. Sie ist aufgeweckt, offensichtlich hochintelligent – und traumatisiert vom Tod ihrer Mutter.

Abhilfe schaffen die willkürlich an alle Kinder verteilten starken Beruhigungstabletten (damals scheinbar noch normal) sowie das Schachspiel, das ihr der eigenbrötlerische Hauswart Mr. Shaibel (Bill Camp) beibringt. Beide Dinge sollen zu lebenslangen Obsessionen von Beth werden. Dabei ist es natürlich das Schachspiel, das sie auch ohne Brett, einzig in ihrer Vorstellung an der Zimmerdecke spielen kann, das den Lauf ihres Lebens bestimmen wird.

Im Laufe der sieben Folgen verfolgen wir die Entwicklung des jungen Schachtalentes, das sich an lokalen Turnieren anmeldet, um mit den Preisgeldern ihr Leben zu finanzieren, zur Grossmeisterin. Gespielt wird Beth als Erwachsene von Anya Taylor-Joy, eine der vielversprechendsten jungen Schauspielerinnen der Gegenwart. Während ihres Aufstiegs erst in der lokalen, dann nationalen und schliesslich internationalen Schachwelt kommen weder Zweifel an ihrem Talent auf noch an ihrer tiefen Verletzlichkeit, die nicht zuletzt zu diversen Suchtmittelabhängigkeiten führt.

Nie kann man sich selbst der Faszination erwehren, die sie auf die anderen Figuren auszuüben scheint: auf den grosszügigen Mr. Shaibel, auf ihre seelisch ähnlich beschädigte Adoptivmutter Alma (Marielle Heller), sowie auf sämtliche jungen Männer, die Beth auf ihrem Weg an die Spitze den eigenen König umkippen lässt.
Wenn man der Serie etwas vorwerfen will, dann dies: Trotz aller Hindernisse, die Beth in den Weg gelegt werden, entsteht nie wirklich eine Ungewissheit, dass sie es nach ganz oben schaffen wird. Weder ihr Status als Frau in einem männerdominierten Sport noch ihr kontinuierliches Suchtverhalten stellen Beth je vor ernsthafte Probleme.

Nicht einmal die politisch knifflige Situation der 60er-Jahre, als die Russen den Sport dominierten und jede grössere internationale Partie als ideologisches Scharmützel interpretiert wurde, mag Beth in ihrem Aufstieg bremsen. Als fiktive Figur ist sie offensichtlich von Bobby Fischer, dem Schachweltmeister von 1972, inspiriert, dessen Geschichte allerdings ein weniger schönes Ende nahm, wie vor einigen Jahren in «Pawn Sacrifice» zu sehen war.

Dass dies alles in «The Queen’s Gambit» mehr oder weniger ausgeklammert wird, lässt die Geschichte um Beth Harmon zumindest historisch ein wenig beliebig erscheinen. Erzählt wird einfach eine gut erfundene Geschichte über eine beeindruckende Frau, die sich rein über ihren Intellekt in einer von Männern dominierten Welt durchzusetzen weiss. Und das in perfektem Dekor.

Sowohl die Tapeten im viel zu grossen Haus in Kentucky als auch die Hotelzimmer und vor allem die Austragungsorte von Las Vegas über Mexico City bis zu Moskau sehen bei Weitem ansprechender aus, als sie es in Wirklichkeit gewesen sein dürften. Historischer Realismus war ganz offensichtlich kein Hauptanliegen der Serienmacher, deren Fokus ganz und gar auf (anspruchsvoller) Unterhaltung liegt – was in diesen Zeiten ja nicht ganz unwillkommen ist.

Und ja: Moskau. Früh wird klar, dass «The Queen’s Gambit» auf ein grosses Endspiel zwischen Beth und dem russischen Grossmeister Vasiliy Borgov (Marcin Dorociński) hinauslaufen wird. Und hier wird es für uns besonders interessant, denn wenn es «The Queen’s Gambit» mit der historischen Korrektheit nie so genau nimmt, gilt für die Darstellung des Schachspiels das Gegenteil. Um sämtliche in der Serie gezeigten Partien auch für jene Zuschauerinnen und Zuschauer, die sich auskennen, authentisch wirken zu lassen, wurde niemand geringeres als Garri Kasparow als Berater verpflichtet.

Auf der Suche nach einem hochkarätigen Spiel, das darüber hinaus der Dramaturgie der literarischen Vorlage entsprechen musste, wurde der ehemalige Grossmeister nicht bloss irgendwo fündig.

Das Spiel, das dem Finale von «The Queen’s Gambit» zugrunde liegt, ist einigermassen obskur, wurde aber tatsächlich gespielt – von Patrick Wolff und Wassyl Iwantschuk. Das war 1993, während des Schachfestivals im Bieler Kongresshaus.

Stichwörter: Heimkino

Nachrichten zu Kultur »