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Ausstellung

«Queere Tiere sind sehr verbreitet»

«Queer» heisst die neue Ausstellung im Naturhistorischen Museum in Bern. Biologe Christian Kropf erzählt von der geschlechtlichen Vielfalt im Tierreich.

Die Ausstellung "Queer" im Berner Naturhistorischen Museum klärt auf. Bild: Keystone

Interview: Andrea Knecht

Christian Kropf, im Zoo in Sydney hat ein homosexuelles Pinguin-Paar ein Ei ausgebrütet und das Küken grossgezogen. Wie verbreitet sind queere Tiere?

Christian Kropf: Sehr verbreitet. Gerade homosexuelles Verhalten kommt vermutlich bei allen sozialen Wirbeltieren vor. Bei allen untersucht ist das natürlich nicht, aber inzwischen ist bei über 1500 Tierarten homosexuelles Verhalten nachgewiesen. Gerade bei hochsozialen Arten wie bei Menschenaffen und Delfinen gehört das zum normalen Repertoire der Verhaltensweisen – und hat oft sogar eine eigene Funktion.

 

Welche denn?

Delfine bilden beispielsweise Männerbünde, um sich gegenseitig zu helfen, zum Beispiel bei der Jagd. Und die zeigen häufig homosexuelles Verhalten – mit Penetration und allem, was dazugehört. Das ist eine völlig natürliche Sache. Aber «Queer» ist ja ein sehr unscharfer Begriff, darunter fallen viele Phänomene.

 

Zum Beispiel Geschlechtervielfalt.

Genau. Beispielsweise gibt es bei allen möglichen Tieren Geschlechtswechsel.

 

Was ist ein Geschlechtswechsel?

Dass ein Tier im Lauf seines Lebens sein Geschlecht einmal oder mehrfach ändert.

 

Also – sprechen wir vom biologischen Geschlecht?

Jaja. Zum Beispiel der Clownfisch, den man aus dem Film «Nemo» kennt, lebt in kleinen Gruppen, bestehend aus einem Weibchen und einigen Männchen. Wenn das Weibchen gefressen wird oder stirbt, wandelt sich das grösste Männchen in ein Weibchen um.

 

Und wie funktioniert diese Umwandlung?

Die Hoden degenerieren, Eierstöcke entwickeln sich – fertig ist das Weibchen. Das gibts bei einer ganzen Reihe von Tieren, zum Beispiel bei den Seepocken. Das sind Krebse, die im Meer festgewachsen sind. Weil sie nicht herumlaufen können, entwickeln sie einen riesigen, langen Penis. Mit diesem Penis suchen sie in der Nachbarschaft nach Tieren, die schon in der Weibchen-Phase sind, und deponieren dort ihr Sperma. Wenn der Spermavorrat aufgebraucht ist, wird der ganze Penis eingeschmolzen, die Hoden degenerieren, der Krebs entwickelt Eierstöcke. Und wartet dann, dass ein funktionelles Männchen zu ihm kommt. Diese Geschlechtswechsel kennt man bei ganz vielen Tieren. Zum Beispiel bei den Borstenwürmern, die sind zuerst Männchen, dann Weibchen – oder umgekehrt, das gibt es auch.

 

Faszinierend. Was gibt es sonst noch?

Zwitter. Das sind Tiere, die Männchen und Weibchen gleichzeitig sind – zum Beispiel die Weinbergschnecke. Wenn die sich begatten, tauschen sie einfach Sperma aus. Das Sperma des Partners speichern sie in eigenen Aufbewahrungsorganen. Wenn die Eier reifen, besamen sie diese mit dem Sperma des Partners.

 

Die Vielfalt ist riesig. Dabei halten wohl viele Leute das biologische Geschlecht für etwas Eindeutiges.

Das ist es aber nicht. Eigentlich ist es sehr schwer, zu sagen, was das biologische Geschlecht ist. Nehmen wir mal die Chromosomen, das halten viele für eindeutig: Männer haben XY-Chromosomen, Frauen XX. Aber erstens gibt es – zwar selten, aber regelmässig – andere Chromosomenkombinationen. In den meisten Fällen wird das interessanterweise gar nicht bemerkt. Und zweitens gibt es vermutlich sehr viele Menschen, bei denen nicht alle Körperzellen XX oder XY sind. In der Ausstellung schildern wir mehrere dieser Fälle.

 

Wenn ich all das höre, frage ich mich: Wie kann sich die Vorstellung, dass beispielsweise Homosexualität etwas Unnatürliches ist, so hartnäckig halten?

Das hat sicher kulturelle Gründe. Schliesslich gibt es auch eine ganze Reihe Kulturen, in denen Homosexualität absolut anerkannt ist. Ich glaube, beim Stigma der Homosexualität spielen die grossen Weltreligionen, vor allem die abrahamitischen, eine grosse Rolle.

 

Im Diskurs über Geschlecht wird die Biologie oft als Verteidigerin eines klaren biologischen Geschlechts und natürlich verteilter Geschlechterrollen dargestellt. So wie Sie das beschreiben, ist sie das eigentlich gar nicht.

Leider muss man fairerweise sagen: Eine Zeit lang war sie das schon. Weil die Naturwissenschaften lange extrem stark patriarchalisch geprägt waren.

 

Das heisst?

Es gab fast nur männliche Wissenschaftler, die – wohl in eigenem Interesse – die männliche Geschlechterrolle als die dominante definiert haben. Noch bei Irenäus Eibl-Eibesfeldt kann man das nachlesen. Als ich in den 80er-Jahren studiert habe, war das das Standardwerk.

 

Heisst das, Biologie und Feminismus ziehen heute am selben Strick?

Von feministischer Seite wird die Biologie oft abgelehnt, weil sie davon ausgeht, dass die Biologie die Geschlechterrollen zementiert hat. Und das stimmt leider auch – während ein paar Hundert Jahren Naturwissenschaft sind Tausende von Abhandlungen über die «Minderwertigkeit des Weibes» und ähnlichen Quatsch produziert worden. Aber das hat sich in den letzten 30, 40 Jahren massiv geändert. Leider ist das in der feministischen und in der queeren Szene noch nicht wirklich angekommen. Das Misstrauen sitzt tief, was verständlich ist. Aber ich glaube, es wäre extrem wichtig, dass sich die beiden Bereiche einander annähern.

 

Wie sollen wir zukünftig mit Geschlecht umgehen?

Jede Person so sein lassen, wie sie ist. Es ist dringend nötig, dass wir von diesen Vorstellungen, wie Männer oder Frauen zu sein haben, wegkommen, denn viele Leute leiden extrem darunter. Ich wünsche mir, dass über Geschlecht ein Diskurs entsteht, der von unseren Werten wie Menschenwürde, Humanität, Toleranz geprägt ist. Das wäre ein Riesenfortschritt – und der passiert gerade.

Info: Die Ausstellung ist bis am
10. April 2022 im Naturhistorischen Museum in Bern zu sehen.

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