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Literatur

Seeland, Land der Seelen

Jean Prod’hom läuft in seinem Buch «November» durch das Drei-Seen-Land nach Biel. In Studen erreicht ihn 
eine Nachricht, die ihn mit aller Härte trifft und ihm zugleich den Weg ins Leben zurück zeigt.

Das Regulierwehr Port, Kernstück der Juragewässerkorrektion, bringt Autor Prod'hom dazu, den Menschen mit einem mobilen Wehr zu vergleichen - er widersteht, gibt nach, und "wenn die Kräfte schwinden, bricht der Damm". Bild: Anita Vozza/A

Clara Gauthey

«Wer zu Fuss unterwegs ist, weiss nie genau, ob er sein Zuhause noch vor oder schon hinter sich hat und ob es sich um einen Abschied oder ein Ankommen im Leben handelt – oder ob nicht alles eins ist.» Jean Prod’hom, der Westschweizer Autor, hat sich einen Monat lang Zeit genommen, um mit seinem Leichtgepäck durchs Dreiseenland zu laufen. Im Buch «November», das jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt, erläuft er sich das Seeland, vor seiner Haustür im Riau, im Jorat, startend, oberhalb des Genfersees. Er marschiert den Neuenburger- und Murtensee und der Aare entlang bis nach Biel. Warum? Es war der Wunsch eines Freundes, in Ruhe sterben zu wollen, er solle ihn von nun an nicht mehr besuchen, sagt er.

Schockiert von solchem Rückzug, der ihn mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert, versucht der Freund auf seinem langen Gang einen Ausgleich, eine Aussöhnung zwischen Leben und Tod, zwischen Wünschen, Träumen, Vergangenheit und Jetzt zu finden. Und er begegnet dabei Menschen und Landstrichen, welche von all dem erzählen.

Leben finden, wenn sich
Tod ankündigt

Man kann sein Buch getrost als eine Art Wanderführer entlang dieser Strecke lesen. Dann erfährt man einiges über Kalksteinbrüche, Flussläufe, Persönlichkeiten aus der Region, Pfahlbauer und Seitenstränge der Juragewässerkorrektionen. Aber auch über die Tiere und Naturräume, welche das Gebiet ausmachen. Letztlich ist all das jedoch auch die Dokumentation des Versuchs, sich Leben anzueignen, während der Tod vor der Tür steht. Es ist eine Suche unter freiem Himmel, den Spuren folgend, die man findet und die man selbst hinterlässt.

Der Kreis schliesst sich dabei nicht, auch wenn jede Morgendämmerung neue Hoffnung verbreitet. «Wenn es tagt, wird der Nacht nicht nachgetrauert, und ebenso ergeht es dem Winter, wenn der Lenz kommt.» Während er also läuft, erwartet er das Sterben des Freundes, wähnt, es zu verpassen, stellt sich abends im Bett vor, wie der Freund im Heim in Chantemerle ebenfalls da liegt und, aus dem Fenster blickend, ebenfalls nichts erblickt. In die Gedanken mischen sich Erinnerungen an den Tod der eigenen Mutter, welche im November Geburtstag hatte, oder die Frage, was man nach einem Leben hinterlässt. Als Ablenkung schieben sich vor die Pupille die Stationen, Beizen und Hotels oder Wohnwägen der Wanderschaft, wo ausgeruht, geschlafen und gegessen wird.

Einsamkeit: Beunruhigend und besänftigend

Die wechselnden Anblicke dienen der Ablenkung von einer sich herabsenkenden Dämmerung, in der sich Tod und unerreichte Träume der Menschen und der Menschheit überhaupt treffen – zwischen Aufbruchstimmung und Albtraum. Die Einsamkeit ist ihm beunruhigender und zugleich besänftigender Zustand, dem man zu zweit an einem Tisch besser nachspüren kann, als alleine. Während er den Freund im Sterben wähnt, erscheint es ihm ebenso sinnlos wie unverzichtbar, an der Welt festzuhalten.

Hinter Ins, vom Schaltenrain aus, überblickt er erstmals die drei Seen gemeinsam, dann geht es hinunter nach Lüscherz. Wie W.G. Sebald ist er auf Rousseaus Spuren, ohne jedoch auf die Insel zu gelangen, im Ansinnen, wie Rousseau schrieb, «die Welt zu bewohnen wie einen Gasthof, den man am nächsten Morgen verlassen könnte». Oder vielleicht will er nur, das Tempo im Spazierengehen senkend, der Hast des vorbeirasenden Lebens entkommen, um in den Sternenhimmel zu schauen.

Dem Lauf des Wassers folgend

Inzwischen hangelt sich der Wanderer dem Lauf des Wassers entlang, der Zihl, dem Aare-Hagneck-Kanal, der Alten Aare, entdeckt Parallelen von Mensch und Wehr: «Wenn die Kräfte schwinden, bricht der Damm.»

Vorbei geht es an aufgetürmten Zuckerrüben, Tieren und Blumen und Bauernhöfen und Kreiselkuriositäten wie der Riesenzuckerrübe in Aarberg oder dem 150 Millionen Jahre alten Findling, den einst der Rhônegletscher herangespült hatte und der jetzt den Lysser Verkehr reguliert. Ein wenig Herablassung ist spürbar, wenn er vom «abgehalfterten» Florida spricht, vom «nichtssagenden» Robert-Walser-Platz, von Studen als einem «Patienten in chronischer Konvaleszenz».

Schock, Schlag – und grosse Erleichterung

Und dann erreicht ihn dort, in Studen, die Nachricht vom Tod seines Freundes. Es ist Schock und Erleichterung zugleich. Der Druck der Erwartung weicht dem Drang, sich auf den noch vor ihm liegenden Weg einzulassen, sich auf das Leben einzulassen, das die Regel ist. Und den Tod, die Ausnahme, wieder zu verdrängen: «Jetzt, da ich weiss, wohin mich meine Reise geführt hat, kann ich sagen, das Seeland – Land der Seen und dank eines uralten Widerspruchs auch Land der Seelen – habe sie geleitet.»

Info: Jean Prod’hom, «November», übersetzt aus dem Französischen von Yves Raeber, Verlag Die Brotsuppe Biel, 31.90 Franken.

Stichwörter: Literatur, Kultur, Kunst

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