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Literatur

Selten, aber phantasievoll

Auch die Schweizer Literatur kümmert sich bisweilen um Tiere: Ein unvollständiges ABC zu Vögeln, Fischen und Säugetieren in literarischen Texten.

Einen Graureiher hat Jürg Burkhart beschrieben: "(...) setz auf im Bach / hebt wieder ab / lautlos ist sein Flug." Bild: Keystone
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Charles Linsmayer

Angesichts des Umstands, dass die meisten von uns nach wie vor täglich tote Tiere essen, dass wir ständig damit konfrontiert werden, wie viele Tierarten weltweit vom Aussterben bedroht sind, aber auch im Licht der von der Wissenschaft immer klarer herausgearbeiteten These, dass wir nicht einzigartig sind, sondern die Menschwerdung ein mit der Tierwelt gemeinsam vollzogener Prozess, eine Ko-Evolution Mensch-Tier, war, ist es erstaunlich, welch marginale Rolle Tiere in der europäischen und insbesondere in der schweizerischen Literatur im Gegensatz etwa zur afrikanischen oder lateinamerikanischen spielen. Man muss viele Bücher durchforsten, um dann und wann auf ein geflügeltes oder pelziges Wesen zu stossen, und es würde einen nicht verwundern, wenn eines Tages jemand auf die Idee käme, wie inzwischen für so viele Varianten der Spezies Homo sapiens, auch für die Tiere eine Quote einzuführen. Die vorgefundenen Exempel vermögen allerdings, wenn nicht mit ihrer Quantität, so doch mit ihrer Originalität zu punkten.

A wie Amsel

Franz Hohler kommt in der Titelgeschichte seines Prosabands «Die blaue Amsel» von 1995 auf eine Amsel zu sprechen, die nicht schwarz, sondern blau ist und deshalb von den auf ihre Schwärze stolzen Artgenossen verfolgt und ausgegrenzt wird: Ein Beispiel, wie Tiere dazu verwendet werden können, um auf eine ebenso versteckte wie überzeugende Weise kritikwürdiges menschliches Verhalten anzuprangern.

E wie Elefant

Der Titel des literarischen Erstlings der im Kosovo geborenen Berner Schriftstellerin Meral Kureyshi, «Elefanten im Garten» von 2015, spielt auf eine Szene an, in der die als Immigrantin in die Schweiz gekommene Ich-Erzählerin die Klassenkameradin Sarah, die sie gerne als Freundin gehabt hätte, mit Lügengeschichten über ihre Herkunft beeindruckt und behauptet: «Wir hatten Elefanten im Garten. Der kleinste steckte seinen Kopf durch das Fenster in mein Zimmer und wollte mit Nüssen gefüttert werden.»

F wie Forelle

Paul Nizons Roman «Das Fell der Forelle» von 2005 leitet seinen Titel von einer «anzüglichen Lithografie» ab, die eine fast schon metaphysische ‹Fleischwerdung› durchmacht und sich in der Fantasie des Erzählers Stolp mit einem nächtlich vorbeiziehenden weissen Flugzeug zu einem Flugfisch verbindet, was er als Fingerzeig deutet, sich von Carmen, seiner Geliebten, zu lösen. «Hatte ich endlich abgehoben?», heisst es am Ende des Buches. «Ich öffnete staunend den Mund. Abgehoben? O ja.»

G wie Graureiher

Im Gedichtband «Der Ort im Wort», mit Zeichnungen von Jürg Burkhart 2019 bei der Edition Howeg in Zürich erschienen, evoziert die Dichterin Anne Broger unter den Eindrücken, die sie von der Landschaft des Zürichsees lyrisch verarbeitet, auch das Bild eines Graureihers: «Über dem Bachbett / fliegt er / neigt den Flug / schmiegt sich in die Biegung / zwischen Haselbüschen / und Eschen / setzt auf im Bach / hebt wieder ab / lautlos ist sein Flug»

H wie Huhn

Mit ihrer Dampfjacht Ismé liegt Kapitänin Cilette Ofaire am 22. September 1933 im portugiesischen Figueras vor Anker. Die Kasse ist leer, die Mannschaft hungert. Als sie von der Post zurückkommt, begegnet ihr ein Huhn. «Geh fort, oder ich esse dich auf!», redet sie es an, und beginnt fieberhaft zu überlegen, wie sie der Mannschaft zu einem Festessen verhelfen könnte. Fast ist es so weit, dass sie das Huhn packt, als sie es dann doch bleiben lässt und es ihr, während sie weggeht, zuruft: «Du jämmerlicher Angsthase!». So hat es Cilette Ofaire in ihrem Roman «Ismé» dargestellt, der in einer deutschen und französischen Ausgabe bei den Verlagen Th. Gut in Zürich und De l’Aire in Vevey greifbar ist.

H wie Hund

Dana Grigorcea hat 2018 mit «Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen» Furore gemacht, einer Novelle, die Anton Tschechows bis auf das «maghrebinisch» gleichbetitelte Ehebruchsgeschichte von Jalta nach Zürich holt und zwischen der Ballerina Anna und dem kurdischen Gärtner Gürkan spielen lässt. Annas Satz «Er wird nicht kommen», bezogen auf ihren Hund, den Gürkan mit einem Keks anzulocken versucht, eröffnet eine leidenschaftliche Romanze, die damit endet, dass Anna, für die das Glück «einzig in einer flüchtigen Ahnung davon liegt», Gürkans Frage «Möchtest Du mit mir leben?» unbeantwortet lässt.

K wie Katze

In Gottfried Kellers Novelle «Spiegel das Kätzchen» von 1856 erweist sich der Kater Spiegel, der, um nicht zu verhungern, mit dem Hexenmeister Pineiss einen Vertrag geschlossen hat, ihm seinen Schmer, also sein Fett, zu liefern, wenn er ihn dafür gesundfüttert, als genialer Taktiker. Statt seinen Schmer liefert er ihm am Ende eine schöne junge Ehefrau, die sich in der Hochzeitsnacht als alte Hexe entpuppt. Selber schuld, wer der Katze den Schmer abkauft!

K wie Kuh

Die Titelfigur in Beat Sterchis Roman «Blösch» von 1983 ist ein Prachtstück von Milchkuh auf dem Knuchelhof, wo sie vom spanischen Knecht Ambrosio betreut wird. Aus Fremdenhass vertrieben, wechselt dieser an den Berner Schlachthof über, wo er bei der Einlieferung einer Kuh eines Tages ausruft: «Caramba! Esa Vaca! Blösch! Yo la conozco!» Der Alltag auf dem Knuchelhof und das industrielle Töten und Sterben im Schlachthof verbinden sich in einer grossartigen Sprache zu einem nach wie vor virulenten literarischen Ereignis.

M wie Maus

Robert Walsers Gedicht «Mäuschen» beginnt mit den Versen: «Neulich, als ich mitten auf dem / Weg ein totes Mäuschen sah, / blieb ich steh’n und sagte: wie nun? / Weshalb liegst du hier so still? / Musstest du’s so eilig haben? / Kaum ins Leben eingegangen, / fliehst du schon daraus hinweg» – und gibt ihm dann die Gelegenheit, das Leben einer Maus wie jenes eines Menschen zu beschreiben: mit Schulzeit, Klavierstunden, Familie, vor allem aber mit einer Riesenangst vor Katzen, ansonsten aber zufrieden mit der Mäusesprache, ohne nennenswertes Lebenswerk und in der Obhut «unsres Vaters oben in den Wolken». «So leb wohl.- Nachdem ich alles / dies gesprochen, ging ich weiter.»

M wie Möwe

Conrad Ferdinand Meyers Gedicht «Möwenflug» von 1883 gibt dem Dichter Gelegenheit, angesichts der um einen Felsen kreisenden Möwen die eigene Befindlichkeit zu hinterfragen: «Allgemach beschlich es mich wie Grauen, / Schein und Wesen so verwandt zu schauen, / Und ich fragte mich, am Strand verharrend, / ins gespenstische Geflatter starrend: / Und du selber? Bist du echt beflügelt? / Oder nur gemalt und abgespiegelt? / Gaukelst du im Kreis mit Fabeldingen? Oder hast du Blut in deinen Schwingen?»

N wie Nachtfalter

Eines der frühesten Gedichte von Silja Walter, «Müder Falter», richtete sich 1950 an einen Nachtfalter. Sie bittet ihn, sie vom «Lichterschaukeln des Tages» zu befreien und «in die gute Nacht» zurückzuwerfen, «wo die Lichtersehnsucht ausgebrannt, / und die Sterne, kalt und unbekannt, / leise Stunden drehen, Stück um Stück». «Und vom feuchten Duft der Luft zerknittert, / eng und leuchtermüde um mich hängt, / will ich meinen letzten, sanften Tanz / über mondenfarben Wasser gehn, / morgens wie ein Blütenblatt verwehn – / Löse mich aus deinem grossen Glanz.»

N wie Natter

In seiner humorvoll-launischen Art beschrieb der 1954 verstorbene Welschschweizer Charles-Albert Cingria 1943 in seinem Prosastück «Die Natter» ein Exemplar dieser Schlangenart, das sich im Park eines Schlosses tummelt, von den Schlossbewohnern beobachtet wird und gelegentlich mit den Leuten Schabernack treibt. So huscht sie den Schwimmenden zwischen den Schenkeln hindurch, sodass ihnen ein eisiger Schreck ins Gebein fährt und sie «mit wasseraufwühlenden Gebärden das Weite suchen».

P wie Pfau

Im Gedicht «Der Pfau des Nachbarn» im Band «Langsamer Satz» von 2002 beschreibt Erika Burkart einen Pfau, «il Pavone del Conte», wie er durch ihren Garten schreitet. «Geht herrlich aufrecht, / Filigrankrone und Schweif – durch Goldbüsche scheint / fremdkörpergrün juwelenblau.» «Schon ist er weg: entrückt / hinter die bröckelnde Efeumauer / Im leeren Garten verwachsen / Schatten den Pfauenpfad.»

R wie Reh

Ein Tier- mit einem Liebesgedicht verbindet der Zürcher Lyriker Albert Ehrismann in «Die Rehlein» im Band «Das Stundenglas» von 1948: «Die Rehlein kamen in der Nacht / und legten sich zu mir. / Sie hatten Zipfelmützchen an / und schmeckten warm nach dir. // Ich zog die Zipfelmützchen aus / und küsste ihre Haut. / Wir lagen so die liebe Nacht / wie Bräutigam und Braut.»

S wie Schmetterling

In der Titelgeschichte des Bandes «Die Agonie des Schmetterlings» von 2015 lässt Helen Meier in ihrem unverwechselbaren Parlando Margrith und Klothilde über Margriths untreuen Mann schwatzen. Die Kleinlichkeit und Spiessigkeit wird nicht verurteilt, erfährt aber durch die letzten drei Zeilen eine geheimnisvolle Relativierung: «Klothilde kommt vor die Wohnungstür, seit einem Tag liegt auf der Türmatte mit angefressenen Flügeln ein Schmetterling.»

S wie Schwein

Generationen von Kindern hat Eveline Hasler mit ihren Kinderbüchern erfreut. Besonders beliebt waren die Schweinchen Babo und Baba. In «Babas grosse Reise» von 1989 erweist sich das Schweinemädchen als früh emanzipiert und macht sich, den Mahnungen der Mutter zum Trotz, auf eine grosse Reise, weil es mit den Zuständen zu Hause nicht zufrieden ist und «nachschauen» will, «was dahinter ist». Zurückgekehrt, sagt Baba zu Bobo: «Weisst du, was die Menschen zueinander sagen, wenn sie glücklich sind? Also, wenn sie Glück haben, sagen sie zueinander: Ich habe Schwein gehabt. Weisst du, was wir sind, Bobo? Glücksschweine!»

S wie Spatzen

In den «Basler Nachrichten» vom 2. Februar 1958 sinnierte Cécile Ines Loos über «Spatzen auf dem Dach» und den Spruch «Es fällt kein Spatz vom Dach, ohne dass Gott darum weiss.»

Angesichts der damals viel diskutierten Atombombe und dem wieder grassierenden Wort «Ausrottung» beschliesst sie, sich an einen anderen Spruch zu halten: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!» Sie füttert den Spatzen die doppelte Ration tägliches Brot und spricht die Kreatur ganz allgemein liebevoll an: «Liebes Spätzlein, bleibe weiter auf unserem Dach. Liebes Fischlein, atme dich mutig durch die unerwarteten Wogen im Weltmeer. Edle Lilie auf dem einsamen Felde, bleibe weiter schön und zart und lieblich, auch wenn dich bisweilen keiner beachtet. Ihr alle wisst noch nicht, welchen Trost ihr für uns bedeutet.»

S wie Spinne

Sie hat unzählige Kunstwerke inspiriert, die schwarze Spinne, die Jeremias Gotthelf 1842 in den Mittelpunkt der gleichnamigen Novelle gestellt hat. Eingeschlossen in einem gut versperrten Astloch, ist das grässliche Insekt scheinbar für niemanden mehr eine Gefahr. Greift aber die Gottlosigkeit und das unchristliche Verhalten um sich, ist sie auf einmal wieder da, bringt Tod und Verderben und verschont niemanden. Dass immer wieder Menschen wie die tapfere Christine, die um ihr Leben nicht fürchtet, die Gemeinschaft aus der Notlage befreien, stimmt in Zeiten der Pandemie ebenso nachdenklich wie hoffnungsvoll.

Z wie Zitronenfalter

Unter den Gedichten von Carl Spittelers Sammlung «Schmetterlinge» (1889) ist «Der Zitronenfalter» eines der berührendsten. Da schreibt eine junge Frau einen Abschiedsbrief an einen Geliebten, als ein Zitronenfalter auf ihren Finger flattert und stirbt. Worauf sie ein neues Blatt anfängt und statt des Abschieds-  einen Liebesbrief schreibt. «Also mit seinem Sterben ein Zitronenfalter / Erschmeichelte das Lebensglück dem Brieferhalter.»

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