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Auftakt

Sie bringen dem Sinfonieorchester Emotionen bei

Es ist eine einzigartige Aktion: Das Sinfonieorchester Biel Solothurn spielt mit dem Berner Inklusionsorchester Tabula Musica den Soundtrack von «Tron Legacy».

Hier wird ein Instrument gespielt: Lukas Schmidt und Christa Stein von Tabula Musica am Soundbeam. Bild: Maximilian Lederer
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Hannah Frei

Electro Symphony bringt alles durcheinander, und gleichzeitig zusammen: Profimusikerinnen spielen mit Laien, Geigenmusik ertönt mit elektronischen Klängen, Menschen mit einer Behinderung musizieren mit solchen ohne. Es ist ein Projekt des Berner Inklusionsorchesters Tabula Musica und des Sinfonieorchesters Biel Solothurn (Sobs). Sie spielen gemeinsam den Soundtrack des Films «Tron Legacy», geschrieben von Kult-Band Daft Punk.

Es ist Neuland, und zwar für alle. Sobs-Leiter Kaspar Zehnder und Tabula-Musica-Leiter Denis Huna wussten zuerst nicht recht, ob sie es überhaupt wagen sollen. «Zu beginn war es ein sehr beängstigendes Projekt. Es gab kaum Vorreiter, an denen wir uns orientieren konnten», sagt Huna. Er begann, zu arrangieren, die Zweifel blieben – vorerst. Für ein Sinfonieorchester zu arrangieren, bedeutete für Huna zwar Freiheit. In seinem Orchester Tabula Musica spielen 14 Menschen mit und ohne Behinderung, jeder und jede hat ganz eigene Fähigkeiten, alles sind Laien. Für das Projekt musste er jedoch diese Fähigkeiten mit dem Können des Sinfonieorchesters vereinen.

Es gebe beispielsweise Musiker in seinem Orchester, die nicht gut hören, bei denen er sich überlegen muss, welche der Instrumente sie während des Spielens auf ihren Kopfhörern verstärkt hören sollen – und welche besser nicht.

Gleichzeitig war da diese Fülle an Möglichkeiten, die das Sinfonieorchester bot. Lange sei er sich unsicher gewesen, ob das Projekt so jemals funktionieren werde. Als Zehnder für eine erste Probe bei Tabula Musica vorbeischaute, seien die Ängste auf einmal alle weg gewesen. «Dieses Zusammentreffen war für mich einer der schönsten Momente», sagt Huna. Zu sehen, dass die Gruppe auch mit Zehnder als Dirigent funktioniert, dass alle Spass daran haben, dass es klingt, wie es soll. «Es schien auf Anhieb zu harmonieren», ergänzt Zehnder.

Bis heute ist für ihn nicht ganz klar, welche der Musikerinnen und Musiker von Tabula Musica und eine Behinderung haben und welche nicht. Das ist genau das, was sich Huna wünscht. Musik machen, eine gemeinsame Sprache finden, ohne Vorurteile. Er kennt zwar die Fähigkeiten seiner Orchestermitglieder, aber nicht deren Diagnose. Die will er auch nicht kennen. Im Vordergrund stehe das, was sie können, und was sie wollen.

Die Technologie macht es möglich
«Tron Legacy»: Ein Film, in dem ein junger, rebellischer Mann auf einen Schlag Teil einer Computerwelt wird. Es dreht sich alles um die Fragen: Was darf ein Computer? Was soll er? Was bringt er? Für Hunas Orchester bringt er viel. Denn zu Tabula Musica gehören nicht nur klassische Instrumente wie Geige, Klavier oder Gitarre, sondern auch elektronische Geräte wie der Soundbeam. Damit können auch Menschen musizieren, die in ihrer Bewegung eingeschränkt sind. Es reicht eine Berührung mit der Hand, mit dem Finger, und schon erklingt ein Geräusch, ein Intervall, ein Akkord. Die Geschichte passt, dachte sich Huna. Genauso wie die Musik: «Es ist die perfekte Mischung aus elektronischer Musik und einem Sinfonieorchester.»

Eigentlich wäre ein Konzert in einem grossen Saal geplant gewesen. Drei Mal haben es die beiden verschoben, kurz vor dem vierten Mal wollten sie nicht mehr länger warten. So entstand die Filmidee: Die Orchester nahmen die Stücke gemeinsam auf und zeigen das Resultat am Samstag an verschiedenen Orten in der ganzen Schweiz. Eine gute Alternative, finden die beiden Dirigenten. Aber der Auftritt fehle den Orchestern trotzdem.

Doch schon nur das Zusammentreffen und zusammen spielen sei filmreif gewesen. «Die beiden Gruppen haben sich gegenseitig befruchtet», sagt Zehnder. Die Profis seien emotionaler geworden, die Laien professioneller. Zehnder musste jedoch rasch Neues lernen. Etwa, dass er nicht immer den Takt angeben kann. So habe sich beispielsweise einer der Musiker von Tablua Musica nicht von seinem eigenen Takt abbringen lassen, Zehnder konnte noch so insistieren. Doch die beiden Orchester stimmten ein und liessen es zu – wie auch Zehnder. «Ich musste lernen, das Taktgeben abzugeben», sagt er.

Technisch gesehen war das Stück für das Sinfonieorchester keine grosse Sache. Die Melodien sind eingängig, die Übergänge fliessend, die Dynamik vorhersehbar. Aber emotional habe das Projekt die Musikerinnen und Musiker auf eine neue Ebene gebracht, sagt Zehnder. «Ein Berufsorchester ist zumindest während der Proben oft ein wenig unterkühlt. Es gehört schon fast zum guten Ton, nicht zu viele Emotionen zu zeigen.» Das sei mit Tabula Musica anders gewesen. Vom ersten Moment an habe es fast schon eine Art Verbissenheit gegeben, eine unglaubliche Konzentration. «Unser Orchester war selten in einer Probe so still und konzentriert wie mit Tabula Musica. Ich kriege heute noch Hühnerhaut, wenn ich daran denke.»

Eineinhalb Jahre hat Tabula Musica jede Woche für das Projekt geübt. Das Sinfonieorchester traf sich drei Mal, und zwar gleich mit Tabula Musica zusammen. Für Berufsmusikerinnen und Berufsmusiker sei das normal, sagt Huna, der selbst jahrelang als professioneller Geiger in Orchestern mitgespielt hat. Dieses «Normale» wollte Huna seinem Orchester zeigen. «Sie sollten so tief wie möglich in die Rolle der Berufsmusikerinnen und Berufsmusiker schlüpfen und miterleben, wie sich das anfühlt.»

Nur etwas machen die beiden Orchester grundsätzlich anders: das Taktzählen. Hunas Orchester ist es sich gewohnt, den Rhythmus jeweils zwei Takte im Voraus anzusagen. Denn Huna zählt immer, auch in den Pausen, wenn gerade niemand spielt. Das kannten Zehnder und sein Orchester nicht. Daran habe man sich aber rasch gewöhnt, sagt er. «Für das Sinfonieorchester war es eine kleine Veränderung mit grosser Wirkung für Tabula Musica», sagt Huna.

Ein Projekt mit Zukunft
Nach der gemeinsamen Aufnahme sei die Begeisterung im Sinfonieorchester gross gewesen, so Zehnder. Es komme selten vor, dass so viele Musikerinnen und Musiker ein Projekt in solch hohen Tönen loben, wie sie es bei diesem getan haben. «Sie waren enorm beeindruckt von Tabula Musica.» Genauso sei es Tabula Musica ergangen. Mit einem Sinfonieorchester zu spielen, sei für viele ein grosser Traum gewesen, sagt Huna.

Ob eine Schubert-Sinfonie auch funktioniert hätte? Zehnder kann sich dies nur schlecht vorstellen. Der Grundbeat fehle, das Stück lebe von der Bewegung, sei agogisch frei. All das, was für Tabula Musica schwierig sein könnte. Aber vielleicht wird das ihr nächstes gemeinsames Projekt. Die beiden hatten ohnehin die Idee, ein Inklusionslaboratorium auf die Beine zu stellen. Ein Ort, an dem solche Dinge ausgetestet werden können. «Electro Symphony wird jedenfalls nicht das einzige gemeinsame Projekt bleiben», sagt Zehnder.

Info: Das Streaming-Konzert Electro Symphony findet unter anderem in Zürich, Bern und Biel statt. In der Bieler Stadtbibliothek wird die Aufnahme des Konzerts um 11 Uhr und 15 Uhr abgespielt.

Stichwörter: Orchester, Musik, Inklusion, Kultur

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