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Baukunst

Siedlungsbau gestern und heute

Das Collagenprinzip scheint bei zeitgenössischen Überbauungen zu überwiegen. Der Bieler Schüsspark bildet da eine Ausnahme und zeigt, was Architektur und Musik gemeinsam haben.

  • 1/6 Alters- und Pflegeheim Schüsspark. Copyright: Thomas Jantscher
  • 2/6 Schüsspark Cinque. Copyright: Thomas Jantscher
  • 3/6 Schüsspark Due. Copyright: Thomas Jantscher
  • 4/6 Schüsspark Sei. Copyright: Thomas Jantscher
  • 5/6 Schüsspark Uno. Copyright: Thomas Jantscher
  • 6/6 Schwanengasse. Copyright: Thomas Jantscher
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von Sybille Thomke

Der Siedlungsbau hat Hochkonjunktur. Niedrige Zinsen und der Ruf nach Verdichtung machen ihn attraktiv. Neu ist er nicht. Denken wir nur an die Arbeitersiedlungen des Industriezeitalters, die visionären Stadterweiterungen der Moderne oder die pragmatischen der Nachkriegszeit.

In den letzten 150 Jahren wurden Siedlungen oft möglichst einheitlich geplant und Baukörper mit der Idee einer effizienten Bauweise und der Gleichberechtigung aller Bewohner repetiert. Heute ist uns diese Repetition suspekt. Wir denken sofort an die Anonymität von Vorstadtghettos oder an die Plattenbauten der DDR. Wir haben erkennen müssen, dass Gleichberechtigung und Gleichschaltung nicht dasselbe sind und es mehr braucht als repetitive Baukörper, um eine Gemeinschaft zu formen.

 

Individualität und Gemeinschaft

Der zeitgenössische Siedlungsbau ist denn auch vermehrt an der Durchmischung von individuellen Bedürfnissen und den daraus abgeleiteten Unterschiedlichkeiten in der Architektur der Gebäude interessiert. Die Schwierigkeit besteht dabei, trotzdem ein stimmiges Ensemble und nicht eine wilde Collage von Fremdkörpern herzustellen.

Das Collagenprinzip scheint bei zeitgenössische Überbauungen jedoch zu überwiegen. Sie stellen zwar oft eine spannende Vielfalt von verschiedenen Wohnformen zur Verfügung, jedes Gebäude ist aber mit derart viel Willen einzigartig gestaltet, dass man sich eher an einer Nabelschau als in einer Nachbarschaft wähnt. Der dazwischen liegende Freiraum kann alleine gar nicht die Kraft aufbringen, ein solches Gefüge zusammenzubinden.

 

Architektur und Musik

Keine Collage ist der Schüsspark auf dem ehemaligen Drahtzugareal in Biel. Die Bieler Architekten Kistler Vogt haben dafür in den 90er-Jahren den Studienauftrag für die Realisierung der ersten Etappe und 2003 den offenen Wettbewerb für den Weiterbau des Quartiers gewonnen. Um die 250 Familien- und Alterswohnungen, Miet- und Eigentumswohnungen, Dienstleistungsflächen und Stadtvillen sind bis jetzt in mehreren Etappen realisiert worden. Die bisher letzte an der Schwanengasse wird eben bezogen. Nördlich der freigelegten Madretsch-Schüss haben Xeros Landschaftsarchitektur die Freiräume gestaltet, im Süden werden sie von Klötzli und Friedli Landschaftsarchitekten umgesetzt. Das Planerteam hat es geschafft, eine Siedlung mit unterschiedlichen Gebäuden und vielseitigen Freiräumen zu bauen, die weder durch eine eintönige noch durch eine überhöhte, individuelle Gestaltung erdrückend wirkt.

Was macht aber dieses Ensemble aus? Wie andere Siedlungen basiert der Schüsspark auf einer Überbauungsordnung, welche die Volumen der Baukörper, nicht aber deren Gestaltung vorgibt. Kistler Vogt scheinen sich dabei ähnlich wie Musiker für Variationen eines Themas zu interessieren. Ein solches ist der Sichtbeton für die Gebäudesockel, der beim achtgeschossigen Turm an der Jurastrasse zum Hauptmaterial wird; ein anderes das Spiel verschiedener, horizontaler Betonbänder oder wiederkehrende Fensterformate.

 

Unterschiede und Verwandtschaften

Der Fokus auf ein Thema pro Gebäude mit wenigen, spannungsreichen Ausnahmen und die Farbtöne natürlicher Materialien, so unterschiedlich sie auch sind, lassen das Auge eine Vielzahl von Brücken bauen - wie beim roten Verputz der Stadtvillen, der an die eben gesehenen, rötlichen Holzschränke auf den Terrassen seines Nachbarn erinnert, oder bei den dunklen Fensterrahmen an der Schwanengasse, die einen Bezug zu den Fenstern und Terrassen des Turms aufbauen.

Die hochwertigen Materialien beweisen einerseits, dass durch kluge Wertanalysen Qualität gebaut werden kann. Andererseits helfen sie mit, ein Architekturvokabular zu entwickeln, das Unterschiede und Verwandtschaften zu einer harmonischen Melodie verwebt; eine unprätentiöse Melodie ist es, die mit einem präzise gesetzten piano hier und einem mezzoforte dort, diese Siedlung zu einem funktionierenden Ort macht.

 

Info: Sibylle Thomke studierte Architektur und Städtebau in den USA. Sie ist Inhaberin des Architekturbüros Spax in Biel. Sibylle Thomke ist eine von sechs Autorinnen und Autoren, die sich in dieser Kolumne einmal pro Monat zum Thema Architektur äussern.

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