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So lustvoll ist die Dekonstruktion

Der Bieler Akkordeonist Jonas Kocher stellt am Samstag den aktuellen Forschungsstand seines Duos mit Joke Lanz vor. Zu erwarten ist ein Verwirrspiel von Instrument und Turntables, neckisch und voller Energie.

Jonas Kocher und Joke Lanz: Im besten Fall reagiert der Körper schneller als der Kopf.  zvg/cornelia fahrner
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Tobias Graden

«Abstract Musette»: Wenn es im Bereich der improvisierten Musik einprägsame Programmtitel gibt, dann ist dies sicher einer der griffigsten. Denn würde man zehn Personen befragen, welche Musik ihnen zum Stichwort «Akkordeon» durch den Kopf geht, summten wohl sieben von ihnen irgendeine Musette-Melodie im Dreiviertel-Takt – im französischen Sprachraum wären es wohl gar alle zehn. «Abstract Musette» müsste demnach irgendeine Dekonstruktion von Musette sein, etwas Neues also, aber immer mit Bezug auf die Geschichte. Ein Konzert unter diesem Titel könnte also Neugierige aus zwei Lagern anlocken, Traditionalisten ebenso wie Avantgardisten. Beide Gruppen fänden zudem ihre Lesart im vorliegenden Album von Jonas Kocher und Joke Lanz bestätigt: Da sind doch Musette-Versatzstücke zuhauf zu hören, die Musik könnte zuerst auf traditionelle Weise eingespielt, dann auseinandergenommen und zu etwas Neuem zusammengefügt worden sein, einer hochkomplexen Sampling-Konstruktion gleich. Kurzum: ein gelungenes, stimmiges Konzept also.
Allein: Im Fall von Jonas Kocher und Joke Lanz hat sich das ganz anders zugetragen.

Ein Schuss als Urknall
Der Bieler Akkordeonist Jonas Kocher traf den Noise-Künstler und Turntablisten Joke Lanz erstmals im Jahr 2010 (ein Turntablist macht Musik mittels Manipulation von LPs auf Plattenspielern). Die Beiden spielten ein Konzert mit einer Sängerin in einer Trio-Formation und beschlossen, zu zweit weitere Klangforschungen anzustellen. Dazu kam es allerdings erst Jahre später: 2015 hatte Kocher für drei Monate eine Carte Blanche in Genf und lud unter anderen auch Joke Lanz zum gemeinsamen Musizieren ein.
Von da an entwickelte sich nicht nur ein gemeinsames Projekt, sondern auch eine Freundschaft. Das sei wichtig, betont Kocher:«Man verbringt viel Zeit zusammen, reist, teilt auch mal ein Zimmer. Da ist es wichtig, dass man gut miteinander auskommt – zumal wir in einer Sparte tätig sind, in der nicht viel Geld vorhanden ist und also die Freude an der Musik der Hauptantrieb ist.»
Von Joke Lanz konnte sich das geneigte Publikum im kürzlich in den Kinos gezeigten, eindrücklichen Porträtfilm «My Life Is A Gunshot» ein Bild machen. Der «Gunshot», das ist der Gewehrschuss, den der 13-jährige Lanz hörte, als sich sein Vater auf der Dachterasse des Wohlener Wohnblocks das Leben nahm. Dieses Geräusch ist gewissermassen Lanz’ Urknall, es ist offenbar lebenslanges Trauma und künstlerischer Antrieb zugleich. Angesichts des Beispiels des Vaters, der zwischen den Polen Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Erwartungshaltung zerrieben wurde, nahm sich Joke Lanz vor, sich nie vereinnahmen zu lassen und seinen ureigenen Weg zu gehen, der ihn zu einem überaus eigenständigen Klangkünstler werden liess.
Lanz’ Antrieb, so scheint es, ist sowohl der Schmerz wie auch die Lust an kindlich-anarchischem Spiel, an Entdeckungsfreude und eskapistischer, sich allfälligen Erwartungen entziehender Selbstironie.

Alles entsteht im Moment
Der für «Abstract Musette» prägende Ausdruck kam zustande, als Joke Lanz erstmals Akkordeon-LPs für das gemeinsame Spiel verwendete, auf die er auf einem Flohmarkt gestossen war – zuvor hatte er mit Platten aus seiner bestehenden Sammlung gespielt. «Das klang cool und gab uns eine neue Richtung», erinnert sich Jonas Kocher.
«Abstract Musette» ist das einzige Projekt, in dem Lanz Platten mit Musik des Instruments seines Duopartners verwendet. Und so kommt es zu einem neckischen Verwirrspiel für die Hörenden: Kommt dieser Klang nun von den Turntables oder vom Instrument? Lässt sich das Akkordeon tatsächlich so spielen, dass es klingt wie ein obskures Rhythmusinstrument?
Sicher ist nur eines:Alle Klänge, die das Publikum hört, werden vor seinen Augen erzeugt. Auch das nun erschienene Album, bereits 2017 in Le Havre während einer Tour durch Frankreich aufgenommen, kommt ohne Overdubs aus.
Die Geschichte aber zeigt: Zu ihrer eigenen Sprache kamen Kocher und Lanz nicht durch die Anwendung eines im Voraus defnierten Konzepts, sondern durch die natürliche Entwicklung des gemeinsamen Projekts. Selbst der Name «Abstract Musette» ist zufällig entstanden: Er stammt von einer Veranstalterin in Brüssel, die einen griffigen Titel für das anstehende Konzert suchte.

Es klingt nach Akkordeon
Improvisiert entsteht die Musik, aber nicht zufällig. Er übe vor dem gemeinsamen Spiel jeweils diverse Muster ein, sagt Kocher, er füllt sozusagen sein Repertoire auf, aus dem er sich dann in der Konzertsituation bedienen kann. Das muss bisweilen blitzschnell gehen: «Joke kann ungemein präzise zuhören und er ist extrem schnell in seinen Reaktionen», sagt Kocher, «jede Sekunde kann es woanders hingehen, man muss extrem präsent sein. Manche meiner Reaktionen kommen dann gar nicht aus dem Kopf, sondern aus dem Körper und dem Instrument.»
Ein Konzert von Kocher und Lanz ist darum nicht nur Klang, sondern auch Performance. Beide haben Erfahrung in diesem Bereich, beide pflegen aber auch in der Musik eine sehr körperliche Spielweise. «Es ist jeweils sehr intensiv», sagt Kocher, «nach einer halben Stunde bin ich klatschnass.»
Bei aller Dekonstruktion und Abstraktion: «Abstract Musette» ist für Jonas Kocher auch ein Schritt hin zu einem Ausdruck, der wieder stärker nach «klassischem» Akkordeon tönt, nachdem er eine Zeitlang stark den gänzlich unmelodischen Klängen zugetan war. Es gehöre zum Prozess als Künstler, dass sich dessen Material auch wieder ändere, sagt Kocher, die Referenzen an die herkömmliche Spielweise des Instruments seien auf «natürliche Art» wieder aufgetaucht. «Aber es stimmt: Vor zehn Jahren hätte ich eine solche Platte nicht machen können», sagt er.
Nun aber ist diese auch schon fast drei Jahre alt – am Samstagabend lässt sich entdecken, was Jonas Kocher und Joke Lanz seither so umgetrieben hat.

Info: Joke Lanz & Jonas Kocher:«Abstract Musette» (Corvo Records), auf 200 Stück limitierte Vinyl-LP. Live am Samstagabend, Kreuz Nidau, Hand & Maul-Festival.

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