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«Stürm war ein Getriebener»

Joel Basman schlüpft im Kinofilm «Stürm – bis wir tot sind oder frei» in die Rolle des Ausbrecherkönigs. Dieser wurde zum Volkshelden hochstilisiert, war aber ein Soziopath.

Walter Stürm, hier gespielt von Joel Basman, war in den 70er- und 80er-Jahren als Ausbrecherkönig bekannt. Bild: zvg
Interview: Reinhold Hönle
 
Joel Basman, was macht für Sie die Faszination Stürm aus?
Joel Basman: Er machte Sachen, die sonst niemand machte. Er nutzte jede Gelegenheit, um aus schlecht bewachten Gefängnissen auszubrechen. Er war mutig, frech und traute sich was. Er hatte das, was man im Jüdischen Chuzpe nennt. Andererseits war er ein rastloser Geist, der vor seinen Dämonen davonrannte – ein Getriebener.
 
Wieviel wussten Sie über ihn, bevor Sie die Rolle übernahmen?
Absolut nichts, ich hatte noch nicht mal von ihm gehört! Als das Script auf dem Tisch lag, las ich den Namen Walter Stürm zum ersten Mal. Umso vertrauter war mir dafür der Name Barbara Hug, da seine Anwältin 15 Jahre lang im Kreis 4 in unserer Nachbarschaft gewohnt hatte! Meine Eltern wussten aus diesem Grund sofort, wer Walter Stürm war, aber ich war erst acht Jahre alt, als der sich das Leben nahm.
 
Wie haben Sie Barbara Hug als Nachbarin erlebt?
Sie war ein spezieller Charakter. Sie war nett zu uns Kindern, strahlte aber auch Strenge und Autorität aus. Sie wohnte zuoberst in einem grossen Mehrfamilienhaus mit 60 oder 70 Parteien. Zu ihrer Wohnung gehörte eine grosse Terrasse, die allen offenstand. Da sassen immer Typen, die jassten und tranken. Heute würde ich sie als coole Person bezeichnen, die gerne mit ihrem Wuschelhund unterwegs war.
 
Welche Anknüpfungspunkte fanden Sie in Stürms Biografie?
Seine raffinierte Art, dem Staat den Spiegel vorzuhalten – ganz ohne Gewalt – entspricht mir sehr. Er stach direkt in die Wunde, aber ohne Messer. Diese vielen kleinen Schachzüge eines Meisterdiebs haben Stil. Etwa, als er bei einem Ausbruch aus dem Gefängnis die Notiz «bin Eier suchen gegangen» hinterlassen hat. Obwohl ich mit Autos nicht viel am Hut habe, war es ein tolles Gefühl, beim Dreh mit einem Mustang aus den Achtzigerjahren rumzufahren. Grosse Maschinen faszinieren mich seit Kindertagen, egal ob Müllwagen, Bagger oder Autos mit lauter Röhre!
 
Stürm strahlt nicht die Souveränität anderer Meisterdiebe aus. Wussten Sie von Anfang an, wie Sie ihn anlegen wollten?
Die Regie entscheidet, wie eine Geschichte erzählt werden soll. Dem muss ich mich anpassen. Als Schauspieler bekommt man einen gewissen Rahmen gesteckt, innerhalb dessen man sich frei bewegen kann. Was heute im Rückblick nach wohldurchdachten, eleganten Schachzügen eines Meisterdiebes aussieht, war in Tat und Wahrheit glücklichen Umständen geschuldet. Der Mythos konnte nur entstehen, weil die damalige Berichterstattung in Zeitung, Radio und Fernsehen noch viel mehr Raum für ein Geheimnis und damit eine Legendenbildung liess als das Internetzeitalter. 
 
Was haben Sie über Stürms schwierige Beziehung zu seinem Vater herausgefunden?
Da gibt es keine Aufzeichnungen. Tatsache ist, dass ein Altersunterschied von 62 Jahren zwischen ihnen lag. Der Vater, Unternehmer und Angehöriger einer untergehenden Generation, sah seine Werte von seinem Sohn verraten.
 
Regisseur Oliver Rihs bezeichnet den Film als zugängliches Liebesdrama mit der ganzen Bandbreite an Emotionen. Lief da wirklich etwas zwischen Stürm und Hug oder handelt es sich um einen dramaturgischen Kunstgriff, der ihm zusätzlichen Reiz verleihen soll?
Sicher ist, dass die Fiktion eine gewisse Rolle spielt und man im Film immer dazu neigt, etwas zu überzeichnen. Meine Eltern meinen, es habe keine Liebesgeschichte gegeben. Spekulationen gab es sehr wohl, aber diese sind weder bestätigt noch dementiert worden. Da war wohl etwas, von dem man nicht genau weiss, was es war.
 
Ist der Eindruck richtig, dass beiden Hauptpersonen die Verfolgung Ihrer Ziele wichtiger war als die Beziehungen zu anderen Menschen?
Bestimmt handelt sich bei ihnen um einen Menschenschlag, der seine Ziele ohne Rücksicht auf Verluste verfolgt – jeder auf seine Art und jede mit ihrem Rucksack beladen. 
 
Beide wurden in ihren Familien verletzt, lernten nicht zu lieben und erfuhren auch keine Liebe. Eine sehr schwierige Ausgangslage.
Absolut! Auch die Einschätzung, ob es die Person ehrlich mit dir meint oder dich zum Narren hält, ist getrübt. Da fragt man sich: Soll ich mich einer Person öffnen, auch auf die Gefahr hin, verletzt zu werden, oder mich aus Angst vor Enttäuschung verschliessen? Die Erziehung ist da sehr prägend. Soziales Verhalten ist Stürm in der Kindheit wohl nicht vorgelebt worden, was zu seiner Soziopathie führte. 
 
Was versteht man darunter?
Stürm wäre der ideale Sanierer einer maroden Firma gewesen, der kaltblütig 3000 Leute entlässt und anschliessend in die Kronenhalle essen geht. Vorher hätte er womöglich noch ein Auto geklaut, nicht, weil ihm das Geld dafür fehlte, sondern schlicht, weil sich die Gelegenheit bot. Und dabei wäre es ihm völlig egal gewesen, ob es das Lieblingsauto von jemand anderem war.
 
Wie hat Ihre Zusammenarbeit mit Marie Leuenberger ausgesehen?
Ich vermittelte Marie Kontakte zu Personen, die Barbara Hug kannten. Wir hatten einige gemeinsame Proben, diskutierten bestimmte Szenen und besprachen technische Details. Daneben arbeiteten wir unabhängig voneinander mit Oli (Rihs). Er gab uns grobe Leitlinien und liess uns dann aufeinander los.
 
Stürm wurde während der Konfrontation zwischen Staatsgewalt und Jugendrevolte um die Globus-Krawalle von beiden Seiten instrumentalisiert. War er Opfer oder Profiteur der Umstände?
Wahrscheinlich beides. Einerseits fand er es toll, dass Menschen vor dem Knast gegen seine Isolationshaft und für bessere Haftbedingungen demonstrierten, andererseits verkörperte er gar nicht die Ideale, die sie ihm zusprachen. Er war der Überzeugung, alle seien gegen ihn, und er sei derjenige, der alles richtig mache. 
 
Schizophren war ja, dass er immer nach Freiheit strebte, und sich dann, wenn er sie erlangt hatte, so verhielt, dass sie ihm wieder entzogen wurde.
Das ist wie in einer ungesunden Beziehung, in der zur Normalität geworden ist, dass man sich anschreit, beleidigt und fertigmacht. Bei Stürm ist es die Reibung mit der Aussenwelt, die ihm Wärme vermittelt. Läuft die Maschine wie geschmiert, dreht er durch. Er braucht das Problem, damit er sich nicht mit sich selbst auseinandersetzen muss.
 
Wie schätzen Sie die aktuelle Polarisierung in unserer Gesellschaft infolge Corona und Klimawandel ein?
Der Mensch ist von der Idee besessen, die Welt in Gut und Böse einzuteilen. Die sozialen Medien befeuern die grassierende Krankheit, dass jede und jeder meint, sich öffentlich äussern zu müssen. Die freie Meinungsäusserung ist zwar ein Grundrecht, doch wir schiessen immer häufiger, bevor wir zielen. Ausserdem neigen wir immer mehr zur Überhöhung einzelner Figuren, weil wir uns besser fühlen, wenn wir uns mit ihnen identifizieren. Denzel Washington sagt in «American Gangster»: «The fucking loudest in the room is the weakest!» Das trifft den Nagel auf den Kopf, siehe Trump … 
 
Als wegen Corona alles stillstand, haben Sie im Modeatelier Ihrer Eltern als Verkäufer ausgeholfen. Wie haben Sie diese schauspielerische Zwangspause empfunden?
Eine wichtige Erkenntnis war, dass es wenig braucht, um glücklich zu sein. Mir ist klar, dass ich das leicht sagen kann, befinde ich mich doch in einer komfortablen Position. Ich lebe alleine, habe keine Kinder und bin Alleinversorger. Aber ich verdiene auch nur dann, wenn ich drehe. 
 
Was steht in nächster Zeit an?
Momentan stehe ich für «Last Song For Stella» vor der Kamera, einen Film über eine jüdische Swingband im Berlin der 40er-Jahre. Am 27. Dezember wird in der ARD der Sechsteiler «Eldorado KaDeWe» ausgestrahlt, in dem ich eine der vier Hauptrollen spiele. Im Januar folgt die ZDF-Reihe «Der Überfall». Schliesslich gibt es noch ein internationales Projekt, über das ich noch nichts verraten darf.
Stichwörter: Sturm, Film, Kino, Kunst, Kultur, Unterhaltung

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