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Literatur

Vom Bedürfnis getrieben,
das Schweigen zu brechen

Heute erscheint das neue Buch «Der Schatten über dem Dorf» des Wahl-Bielers
Arno Camenisch. Im Mittelpunkt steht eine menschliche Tragödie – und der Autor selbst.

Arno Camenisch: Kindheit in einfachen Verhältnissen, heute ein umworbener Autor und Bühnenstar. Bild: zvg

Annelise Alder

Der Tod eines Kindes. Ein unfassbares Schicksal, nicht nur für die Angehörigen. «Wie kann jemand sowas überstehen», fragt sich der Erzähler im Buch «Der Schatten über dem Dorf». «Irgendwann wird der Frühling wiederkommen», pflegte sein Grossvater zu sagen.

Noch ist es aber nicht so weit. Das Dorf, wo sich die Tragödie ereignet hat, steht immer noch wie unter Schock. Er sitzt so tief, dass den Leuten die Worte fehlen, um darüber zu sprechen. Alle, die Zeugen des Schreckens waren, hüllen sich in Schweigen. «Als würde man das Geschehene ungeschehen machen.» Selbst der Erzähler, der anderthalb Jahre nach dem tragischen Ereignis geboren wurde, spürt jedes Mal diese «Traurigkeit», wenn er in den Ort seiner Kindheit zurückkehrt. Sie liegt wie einen «feinen Nebelschleier» über dem Weiler.

Seine Mission ist es deshalb, das auszusprechen, was alle verschweigen. Dies in der Hoffnung, dass das Dorf «etwas Frieden» finden möge.

 

Panorama einer Kindheit in einfachen Verhältnissen

Der Name des Dorfs wird verschwiegen – so wie seine Bewohnerinnen und Bewohner über den Schrecken verstummt sind, der sich ihnen «in die Seele gebrannt hat». Doch es ist eindeutig, dass es sich um Tavanasa handelt, das Dorf, in dem der Wahl-Bieler Arno Camenisch aufgewachsen ist.

Klar ist auch, dass es sich beim Erzähler um das Alter Ego des Autors handelt, der seinem Geburtsort einen seiner raren Besuche abstattet. Beim Einbiegen in die Dorfstrasse werden Erinnerungen an die eigene Kindheit wach: Das zweite Haus ist dasjenige der Grosseltern, wo er einen Teil seiner Kindheit und in der Werkstatt seines Grossvaters unzählige Stunden verbracht hat. Daneben steht die Beiz der Tante, in der er zusammen mit seinem Cousin und seiner Grossmutter bis tief in die Abende hinein jasste. Am Ende der Strasse befindet sich der Kiosk, dem der Autor in seinem letzten Buch «Goldene Jahre» ein Kränzchen gewunden hat. Doch da ist auch die sonderbare Atmosphäre, die jedes Mal zur Folge hat, dass er «selten über Nacht bleibt».

Was muss den Autor zum bedrückenden Sujet seines neuen Buchs veranlasst haben? Ist es tatsächlich nur die Mission, das Schweigen, das seine Kindheit geprägt hat und heute noch wie Blei auf der Seele der Dorfbewohner lastet, aufzubrechen? Die Schwere, die sich bei «jedem Besuch im Herzen breit macht», aufzuheben und dem Schmerz eines ganzen Dorfes endlich «eine Stimme zu geben»?

Ist der Anstoss nicht vielmehr persönlicher Art, nämlich die eigene Lebenssituation: Arno Camenisch ist Vater eines Mädchens, das nun so alt ist, wie eines der Kinder, das damals durch das tragische Unglück ums Leben gekommen ist. Beklemmend für ihn deshalb der Gedanke, wenn er das eigene Kind überleben sollte. «Wenn dein Kind stirbt, würde es deine Seele brechen», sagt der Erzähler.

Nicht nur das: Der Schriftsteller steht in der Blüte seines Lebens. Er ist erfolgreich und ein umworbener Gast bei Lesungen. Die Pandemie zwingt ihn jedoch zum Stummsein. Die Bühne, die er auf seinen Lesetouren so gerne betritt und die er «über alles liebt», darf er nicht betreten.

So hat die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit das erzwungene Schweigen im gegenwärtigen Leben abgelöst. Resultat davon ist das neue Buch. Es ist zugleich der Versuch, sich von den Fesseln der Kindheit zu lösen.

 

Der Tod zieht sich wie ein roter Faden durchs Leben

Im Mittelpunkt von «Der Schatten über dem Dorf» stehen Stationen einer Biografie, die mit einer glücklichen Kindheit in einfachen Verhältnissen beginnt. Doch der Tod zieht sich durch das Leben des Erzählers wie ein roter Faden. Nicht nur in Form von Schatten vergangener Tragödien, die bis in die Gegenwart reichen. Da ist auch ein Onkel, der Suizid begangen hat. Eine geliebte Frau musste sterben. Der Vater ist zu früh von der Welt gegangen. Selbst der Erzähler ist bei einem Skiunfall nur haarscharf dem Tod entronnen.

Gegen die Schicksalsschläge stemmt sich nicht nur der Grossvater: «Du musst irgendwie damit zurechtkommen, sonst bringt dich der Schmerz ins Grab.» Der Erzähler verlässt die dörfliche Gemeinschaft bereits in jungen Jahren. Oder ist er ihr entflohen? Jedenfalls «entdeckt» er während seines Aufenthalts in Spanien das, was «er liebte» und was seinem Leben fortan Erfüllung bringen soll: Das Schreiben, die Fähigkeit also, Unausgesprochenem eine Stimme zu geben.

 

Liebevoller Erzählton, Empathie für Dorf- Milieu

Das neue Buch von Arno Camenisch ist anders als die vorangegangenen Bücher des Autors. Es kommt fast ohne die für ihn so typischen dialektalen Einsprengsel aus. Einzig die «Mess» darf ihre lokale Bezeichnung behalten. Die Kirche ist schliesslich der Anker der dörflichen Gemeinschaft. Hier konnte zusammen getrauert werden, ohne etwas sagen zu müssen, «denn für das, was geschehen war, gab es ohnehin keine Sprache». Die Kirche war die Einzige, die dem dörflichen Schmerz so etwas wie Trost und Versöhnung entgegenzusetzen vermochte.

Bei aller Schwere der Thematik: Nie wirkt sie beklemmend. Das ist dem liebevollen Erzählton und der Empathie des Autors für das dörfliche Milieu zuzuschreiben. Für Spannung ist auch gesorgt: Die Tragödie wird zwar schon auf den ersten Seiten des gut hundertseitigen Büchleins angedeutet. Ihr Hergang wird im Lauf der Erzählung nur schrittweise entschlüsselt. Das Ausmass der Katastrophe ist erst am Schluss offensichtlich.

Tavanasa liegt am Talboden der Surselva. Im Winter muss das Dorf während drei Monaten ohne Sonnenlicht auskommen. Der Schatten wird daher auch in Zukunft treuer Begleiter der Dorfgemeinschaft sein. Doch «dem Schlimmen, was passiert ist» hat Arno Camenisch eine einfühlsame Sprache gegeben und dafür gesorgt, dass am Schluss «die Sonne durch die Wolken schimmert».

 

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