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Literatur

Vom Biegen und vom Brechen

Chris Schneebergers Roman «Neon Pink & Blue» erzählt von einer obdachlosen Dragqueen, von Sinn und Unsinn des Kunstwesens mit Kunstnägeln und verbogenen Schweizer Ahnen und Zeitgenossen.

Christoph Schneeberger liest aus seinem Debütroman «Neon Pink & Blue» anlässlich des Online-Literaturfestes «Viral» im April. Inzwischen hat es sein Buch auf die Hotlist der 30 besten Bücher deutschsprachiger, unabhängiger Verlage geschafft. Screenshot

Clara Gauthey

Die Gage ist versoffen, die Reinigungsfachkraft im Neonlicht die einzige, welche dem Künstler noch Gesellschaft leistet, der Dragqueen, die an den Kunstnägeln kaut und ausgetanzt hat. Szenen, die aller Herrlichkeit der Glitzerwelt entbehren. Aber auch ein ganz normaler Morgen danach.

Christoph Schneeberger, so der bürgerliche Name des Autors, der sein Debüt im Bieler Verlag Die Brotsuppe veröffentlicht, tritt als Autor X Schneeberger auf, einer seiner Dragqueen-Namen nämlich X Noëme, ein anderer Kris Kiss. Das Liederrepertoire der Queen reicht von Doris Day über Marlene Dietrich bis hin zur «Eintagsfliege», selbstgedichtet.

Eine Eintagsfliege überlebt

Die «Eintagsfliege» war es auch, ausgerechnet, welche den Ritt durch chaotische Künstlergarderoben in Zwischennutzungen oder Kellertheatern und wechselnde Musiker überlebte und integral Eingang ins Buch fand. Wobei ja ohnehin das meiste verbrannt, in einem Anfall trauriger Raserei, denn die Künstlerin legt die Schminke und ihre Josephine-Baker-Garderobe mit Spitzenkleidchen und Plüschstola, mit Kunsthaar und Kunstbusen ab. «Alle Tanzaffigkeit beerdigt, die Transvestiten-alias in den Bühnentod geschickt.» Hin zum Transvestiten in Zivil, «ohne Dach und Putz» und auf Parkbänken, mitunter.

Sklaverei hat viele Facetten

Die Geschichten, die Schneeberger erzählt, und wie er sie erzählt, zu mindestens zweiDritteln in indirekter Rede, liegen fernab theatraler Bühnenleichtigkeit. Sie dienen dem geneigten Leser nicht gerade zum Voyeurismus, auch, wenn das Milieu der «Paradiesvögel», der «Bitches», der «Schwestern», lebendig wird. Sie kreisen um das Warum solcher Maskerade, biografisch, historisch, genetisch, philosophisch. Die Dragqueen ist nicht nur bald arbeits- und obdachlos, papierlos gar als Karteileiche des Systems, sondern in diesem Hitzesommer voller Zeit und Leere auch auf der Suche nach den bröselnden Teilchen ihrer Identität. Sie sucht Kindheitserinnerungen ab, Traumata in dritter Generation. Der Grossvater, das Verdingkind im Seeland. Die Sklaverei aber auch in anderen Facetten, gepeinigte Kinder, verdunkelte Geschichten, welche ans Licht treten. Verschleiert und unerzählt, aus Scham, aus Angst, aus Unmündigkeit. Ans Neonlicht gezerrt, in aller Traurigkeit, besungen.

Landesverrat als Chanson

Einerseits ist dieses Debüt eine Art bizarre Künstlernovelle à la Heinrich Manns «Branzilla», zugleich ein langes Lied auf die Abgründe der Schweiz, nachgezeichnet anhand der eigenen Familiengeschichte. Ein schwarzes, tanzendes Mädchen, eine Josephine Baker, wollte der fünf,- sechsjährige Bub einst sein. Die Schweiz aber, Postkartenkulisse, durchlöchert von Hexenverbrennungen, Brüderkriegen und Verdingkindern, taugt kaum dazu. Die Verbiegungsversuche des Kindes durch seinUmfeld sind sprichwörtlich, bis auf eine im Säuglingsskelett verbogene Wirbelsäule, von der eigenen Mutter zurechtgedrückt und Phantomschmerzen nach sich ziehend.

Und so wirft sich das erwachsene Kind in Schale, tanzt den Beelzebub raus, mit Pillen und Hasch, Frauen küssend, Männer liebend, bis in alle Müdigkeit. Im Land der Pünktlichkeit, des späten Frauenwahlrechts und des langen Rechts auf erzwungenen Sex in der Ehe, der Schwulenregister und des bürgerlich-moralinsauren Anstands, der oft nichts weiter als vererbte Verklemmtheit und Paranoia. Der Grossvater zerreibt der Mutter als Kind lebende Schnecken auf den Warzenhänden, um den Arztbesuch abzuwenden, «kein Kind in fremde Händ’», murmelnd.

Travestie als Ventil

Die Travestie also am Ende auch Ventil für Zwiespälte jener, die im Korsett der Bürgerlichkeiten zu ersticken drohten. Mehr Pose als Haltung, mehr Geste als Bedeutung: «Travestien, das seien die gezeigten Nähte und aufgeworfenen Raufen der Schöpfung, aber auch die überbrückten Sollbruchstellen der Körperbilder; nach aussen gekehrt, auf links gedreht.»

Die Befreiung ist letztlich ohne Schminke möglich. Mit Obdach und Schweizer Pass. Dafür braucht es einen Polizisten, der einen Eintrag macht, wo keiner war. Braucht es väterliche Sugardaddys und Dragqueens, die einen vor dem einst selbst gewollten Ableben durch einen gewalttätigen Freier retten. Braucht es schliesslich eine Sprache, die gefunden wird, auch, wenn man ihr misstraut und sie verdreht mit Fehlern, mit Mundart. Durchflochten wird sie ausserdem von lateinischen Baumnamen, die der Grossvater einst durch die Gärtnerlehre auf der St. Petersinsel mitbrachte, nach dem Verding, und dem Enkel vererbte. Der Hitzesommer verebbt, der Herbst kommt, die Fledermäuse verziehen sich. Alle werden weniger. Nur der Paradiesvogel noch. Geblieben. «Einsam wie ein werbender Vogel zur falschen Zeit.»

Info: x Schneeberger. Neon Pink & Blue. Verlag Die Brotsuppe. Ca. 38 Franken.

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