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Literatur

Vom Bielersee zum Pilatusgipfel

Heinz Stalder legt mit «Frédéric de Cergnaux» einen mittelalterlichen Schelmenroman nach Art von Grimmelshausens «Simplizissimus» vor.

Heinz Stalder (81) war einst Lehrer in Biel. Heute lebt er in Kriens und London. Bild: Keystone

Charles Linsmayer

Geboren ist er in Schernelz, als Abkömmling der Freiherren von Ligerz, und nennen tut er sich je nachdem Fritz von Schernelz oder Frédéric de Cergnaux. Wobei der welsche und der deutsche Fritz – der eine auf Abenteuer, der andere auf Vorsicht bedacht – lebenslang miteinander im imaginären Gespräch bleiben und man dem, was über sie oder ihn erzählt wird, genau so entgegentreten sollte wie François Rabelais’ Figuren Gargantua und Pantagruel, denen dieser in seinem von 1532 bis 1564 erschienenen Roman folgendes mit auf den Weg gab: «Der du pilgerst durch dieses Buch, / Freund, bleib kühl bis an den Nabel./ Nimm kein Ärgernis und such / Drin nicht Gift noch Pest noch Babel. / Taugt es was – bei Petri Sabel! / Ei, so taugt’s zum Lachenlernen.»

Heinz Stalder situiert seine Geschichte in der Zeit des Laupenkriegs (1339), und er verwendet für seinen Schelmenroman, der irgendwo zwischen Grimmelshausens «Simplizissimus», Rabelais und den Romanen des Schweizers Gerold Späth («Balzapf», «Commedia») angesiedelt ist, auf karikierende Weise Elemente des französischen Rosenromans aus dem 13. Jahrhundert.

 

Vor der Petersinsel gezeugt

Frédéric, der bei Blitz und Donner in einem Ruderboot vor der St.Petersinsel gezeugt worden ist und davon nicht nur seine Wasserscheu, sondern auch seine Sehnsucht nach dem Bielersee herleitet, wird vom Schwarzen Zähringer zum Haudegen erzogen. Er weigert sich aber, Hengste zu reiten, sondern zieht Stuten mit Namen wie «Mariée du Taureau» oder «Grace à Dieu» vor. In Klöstern, wo das Buch die Nonnen lasziv erregt, lernt er den Rosenroman kennen, und bald schon lautet seine Devise in durchaus erotischem Sinn: «Epanouis la rose», «mach die Rose blühen». Die Freiburger Cousine Véronique de Guin, die ihn kurz mal vergewaltigt hat, ist allerdings nicht nach seinem Geschmack, und als er sie auf väterlichen Befehl hin heiraten soll, macht er sich aus dem Staub und glaubt, ihr für immer entronnen zu sein.

 

Dunkle und helle Seiten

Weil er den Gümmener Raubritter vom Pferd stösst, geht Frédéric schon bald der Ruf eines todesmutigen Kriegers voraus. Ein Vorfall in der Nähe von Bern, als er auf zwei Weinhändler eine mit Fäkalwörtern gespickte Grabrede hält, nachdem er sie mit «Wurmfadsud» zu Hosenscheissern gemacht und danach erstochen hat, zeigt seine derbe, gar nicht lustige, ja kriminelle Seite. Man ist jedenfalls froh, dass von da an das Geschilderte bei aller Abenteuerlichkeit zwar keineswegs jugendfrei daherkommt – Frédéric ist offensichtlich dem erotisch Anziehenden bzw. Anzüglichen mit fieberhafter Schwärmerei zugetan –, dass man aber im Gegenlauf zu realistischen Darstellungen der Pest, der kriegerischen Brutalität und einigen Szenen von kaum erträglicher Grässlichkeit auch immer wieder auf ansteckende Fröhlichkeit und auf Momente von barockem sinnlichem Überschwang stösst.

Frédéric macht sich auf nach Paris, wo er den König von den Briganten befreien soll. Unterwegs reisst er eine gewisse Noëlle, die als Hexe verbrannt werden soll, mit einem kühnen Handstreich vom brennenden Scheiterhaufen, muss dann aber erleben, dass die Pest sie tötet. Feige versteckt er sich, als das unkeusche «Kloster der gefallenen Magdalenen» von Briganten überfallen wird. Völlig heruntergekommen, päppelt ihn die Baronesse Ginette wieder auf und verhilft ihm dann, an Frauen, und nicht an Männern interessiert, nach einem gemeinsamen Bad – Rücken an Rücken! – zur Flucht vor den Nachstellungen ihrer Mutter. Paris, das ihn als Held begrüsst, ist schrecklich heruntergekommen, und bald schon gerät er in den Bann der Baronesse Vénus, die er entführen will, um mit ihr an den Bielersee zurück zu reiten. Der Plan scheitert allerdings in der grässlichsten Szene des Buches, als Frédéric, von Briganten an einen Baum gebunden, zusehen muss, wie eine entfesselte Horde den Herzog, Venus’s Vater, am Feuer brät und die Tochter zwingt, ihn bis auf die Knochen aufzuessen. Im Zirkus des Monsieur Farellieu verliebt sich Frédéric in die Artistin Angélique und bringt mit ihr den Messerwerfer François um dessen «jus primae noctis», das verbriefte Recht auf die erste Nacht.

 

Aufbruch nach Luzern

Schliesslich lernt Frédéric im grossartigen Garten von Henri du Sagesapin den jungen Freiburger Geistlichen Antonin kennen. Der ist auf der Suche nach dem Dichter Petrarca, aber nach einem prunkvollen, sinnlich verschwenderischen Bankett in besagtem Garten – der mit Abstand glanzvollsten Partie des Buches! – brechen Antonin und Frédéric nach Luzern auf, um Petrarcas legendäre Besteigung des Mont Ventoux von 1336 mit einer Besteigung des Pilatus nachzuahmen und den Fluch des Berges, in dessen Gipfelsee Pontius Pilatus begraben sein soll und den die Geistlichkeit zur Terrorisierung der Bevölkerung benützt, zu brechen. Nach weiteren Abenteuern erreichen die beiden Luzern und besteigen zusammen mit einem ortskundigen Geistlichen den Berg.

Doch am Gipfelsee angekommen, erfüllt sich Frédérics Schicksal in unerwarteter Weise. Zwar entlarvt er die Gefährlichkeit des Berges als Schwindel, zugleich aber holt ihn Véronique, vor der er geflohen ist, doch noch ein: Antonin outet sich als der Sohn, den er mit ihr gezeugt hat, und kaum weiss er das, erschlägt ihn, vom Blitz gefällt, eine Lärche. Antonin seinerseits überlebt mit entstelltem Gesicht und entkommt nach Süddeutschland, wo er auf Frédérics Bruder trifft und als Antonio di Cergnopoli zum Gaukler wird. Als man ihn als Hexer zum Scheiterhaufen verurteilt, rettet ihn der Teufel in Gestalt eines Katers. Erneut auf Wanderschaft, fragt ihn eine nach Frankreich ziehende Marktfahrerin, wohin er unterwegs sei, und bekommt zur Antwort: «Ins fünfzehnte Jahrhundert».

 

Überraschende Kehrtwendung

Heinz Stalder, 1939 in Allenlüften geboren, erst Lehrer in Biel, dann in Kriens, ist mit Theaterstücken, Hörspielen und Kinderbüchern erfolgreich und publizierte zuletzt den Roman «Krummen» über einen Bauernknecht und die beiden in Finnland angesiedelten Romane «1001 See» und «Bärenlieder».

Seine Affinität zum Schelmenroman aber hat er bisher nur ansatzweise, etwa in der Groteske «Das schweigende Gewicht» von 1981, offengelegt. Der 341-seitige Roman «Frédéric de Cergnaux» steht jedenfalls nicht nur in der aktuellen Schweizer Literatur, sondern auch in Stalders Publikationen der letzten 30 Jahre als unerwartete Überraschung da. Ein Text voller Spannung und Exaltiertheit, der eine vital-erzählfreudige, die Möglichkeiten des Darstellbaren bis an ihre Grenzen ausweitende Schreibweise mit einem kenntnisreichen Einblick in die spätmittelalterliche Gesellschaft verbindet und der Fantasie auf eine Weise freien Lauf lässt, die gelegentlich – vor allem auf den letzten 15 Seiten! – auch überbordet, dem man aber, mehr verblüfft als irritiert, die Bewunderung nur schwer versagen kann.

Info: Heinz Stalder, «Frédéric de Cergnaux», Verlag Zytglogge, 341 Seiten, 36 Franken, Vernissage: Morgen, 19.30 Uhr, Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern.

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