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Schreibwettbewerb

Von Bäumen, Tüten und Vanilleeis

Mit ihrer Kurzgeschichte hat sich die Nidauerin Florence Hofmann beim Schreibwettbewerb des Schlösslis Biel den 2. Platz erschrieben. Ein Kiosk spielt in ihrem Text eine wichtige Rolle - und Vanilleeis mit heissen Beeren.

Ein Kiosk hat die 16-jährige Florence Hofmann zu ihrer Geschichte inspiriert. Copyright: Jonathan Liechti

von Florence Hofmann

Zum letzten Mal sitzt Erich auf der Bank vor seinem Kiosk. Seit Jahren hat er das kleine Geschäft an der Autobahn mit Leidenschaft geführt. Schon als Kind hatte er alle seine freien Stunden im Kiosk seines Vaters verbracht. Ihm beim Auffüllen der Regale genauso bewundernd zugesehen, wie beim Putzen der Theke nach Ladenschluss. Er erinnert sich noch genau, wie sein Vater jeden Abend mit stolzem Ausdruck den blauen Lappen ins Wasser tunkte und mit seinen grossen Händen sorgfältig jeden Zentimeter der Glasplatte abwischte.

Mit zusammengekniffenen Augen hatte Erich sich jeweils über die Theke gebeugt, um sich zu vergewissern, dass er kein Stäubchen vergessen hatte. Dann streckte ihm sein Vater die Hände zu, zog ihn aus der Tür und warf einen letzten prüfenden Blick über die Türschwelle. Erich hatte das Gefühl immer geliebt, einen weiteren guten Tag abgeschlossen zu haben. Die Routine gefiel ihm. Und nun war es zu Ende, aus und vorbei. Erich hat niemanden gefunden, der das Geschäft noch weiterführen wollte. Und nach einiger Zeit würde sich wohl kein Mensch mehr an den alten Mann im Kiosk erinnern. Irgendwann ist alles fertig.

Ein verkniffenes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. Erich denkt zurück an die vielen wichtigen Momente, die sich hier abspielten. Erinnerungen an seinen letzten Schultag kommen hoch. Damals ging sein Vater nach Ladenschluss nicht wie sonst den Lappen holen, sondern zur Tiefkühltruhe. Er nahm eine Fünfkilopackung Vanilleeis hervor und stellte sie mitten auf den Tresen. Daneben brodelte in einem Kännchen leise die heisse Himbeersauce, die vom Vortag übriggeblieben war. Erich hatte zwei riesige Löffel geholt und sie setzten sich einander gegenüber auf die Barhocker. Dann assen sie zusammen Eis, bis ihre Bäuche beinahe platzten. Erich fühlte sich wie das glücklichste Kind der Welt. Für ihn hätte es ewig so weitergehen können. Er wollte nicht älter werden.

An diesem Abend hatte ihm sein Vater zwischen zwei Löffeln Eis tief in die Augen geblickt und gesagt: «Das Leben ist ein Vanilleeis mit heissen Beeren, mein Sohn. Erst wenn du dir einmal den Mund an den heissen Beeren verbrannt hast, bist du in der Lage, den richtigen Zeitpunkt zu finden. Nur dann besitzt man die Weisheit, um die Balance zwischen heiss und kalt zu erkennen. Wartet man zu lange, so ist es schon vergangen, ohne dass wir es je richtig genossen haben. Isst man zu schnell, kostet man es nicht gänzlich und läuft Gefahr, nie in den vollen Genuss zu kommen. Vanilleeis und heisse Beeren ist ein Dessert, das jeder kosten sollte, bevor er den Löffel abgibt.»

Er hatte den Vater verständnislos angeschaut und gefragt, was er damit meine. Doch dieser hatte nur mit wässrigen Augen und verschleiertem Blick in die unendliche Ferne geschaut. «Obwohl sie jedesMal gekleckert hat, liebte sie dieses Essen...» Sekunden später hatte sich der Vater bereits wieder gefasst und Erich aufmunternd angeblickt. «Bist du glücklich, mein Kind?» Völlig überrumpelt hatte Erich seinen Vater angestarrt und mit den Schultern gezuckt. Niemals zuvor und niemals danach hatte er seinen Vater so traurig gesehen.

Erich zieht ein rotkariertes Taschentuch aus seiner Jackentasche und schnäuzt sich heftig die Nase. Die Welt folgt ihrem eigenen Rhythmus und er steht mittendrin. Er wurde nie danach gefragt, treibt einfach in den Wogen der sich unendlich schnell drehenden Welt. Man versucht, sie zu verstehen, etwas zu verändern. Wie hatte er in seiner Jugend doch vor Energie gestrotzt. Den Kopf voller Pläne, bereit, sein Glück zu suchen. Voller Tatendrang stürzte er sich auf jede neue Herausforderung. Doch mit der Zeit haben sich seine Werte verschoben, seine Prioritäten geändert. Er hat gelernt, sich an den kleinen Dingen des Lebens zu freuen. Das ist nicht weiter schlimm. Es ist nur anders.

Er fühlt sich wie die Eiche, die unweit von ihm an der Autobahn steht. Starr steht sie da, während die Autos donnernd an ihr vorbeiziehen. Die Blicke der Fahrer klar aufs Ziel gerichtet, die Hände stur am Lenkrad, nicht im Stande, die Umwelt wahrzunehmen.

Ein Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. Der kleine Junge mit dem roten Fahrrad hatte denselben Gesichtsausdruck gehabt. Wild strampelnd, hatte er an diesem Nachmittag den Vorplatz des Kiosks überquert. Erich hatte ihn durch sein Schaufenster beobachtet. In diesem Moment war seine Welt für ein paar Sekunden perfekt gewesen. Da trat plötzlich diese junge Frau um die Ecke. Schwere Taschen schleppend, versuchte sie mit dem Tempo des Jungen mitzuhalten. Alles Rufen nützte nichts und so eilte sie leicht verschwitzt über den Vorplatz. Kurz hob sie den Blick und sah Erich durchs Schaufenster an. Wie ein Blitz durchfuhr es ihn damals, noch nie hatte er solche Augen gesehen. Ein kleines Lächeln war alles gewesen, was er zustande brachte in diesem Moment. Einen Augenblick später war sie auch schon wieder weg. Er hatte sie nie mehr gesehen. Wie oft hatte er sich gewünscht, ihr wäre damals eine ihrer Tüten gerissen. Hätte er sie doch nur angesprochen, ihr Hilfe beim Tragen angeboten, irgendwas, nur nicht diese verdammte Ohnmacht.

Wie so oft in seinem Leben hatte er eine Chance vorbeiziehen lassen. An diesem Tag war ihm seine Einsamkeit schlagartig bewusst geworden. Er war nie einer gewesen, der die Aufmerksamkeit gesucht hatte. Sein Freundeskreis beschränkte sich auf seine Stammkunden. Täglich ein paar Worte, meist über Sport oder Politik, belangloses Zeug. Dennoch war er nicht unglücklich. Das dankbare Lächeln eines zufriedenen Kunden erfüllte ihn ein wenig. Am liebsten mochte er die hellen Stimmen und das Gelächter der Kinder, die ab und zu vorbeikamen, um sich Süssigkeiten zu kaufen. Das Glitzern in den Augen, wenn sie die gefüllten Regale bewunderten, oder ihre kurzen, neugierigen, etwas verschämten Blicke Richtung Heftchen-Ecke. Das war es, was ihn am Leben hielt. Und nun war auch das vorbei.

Die Veränderung war wie ein Unwetter über ihn hereingebrochen, unaufhaltbar, mit tosender Wucht. Niemand hatte ihn nach seinem Willen gefragt. Es war einfach passiert. Eines Tages konnte er sich im Spiegel selbst nicht mehr wiedererkennen. Nun war es also so weit. Er war alt. Hatte er sich anfangs noch dagegen gesträubt, begann er es langsam zu akzeptieren. Und mit der Zeit gewann er auch an Zuversicht.

Sein Blick gleitet kurz zu der Eiche. Wie schön sie wohl einst gewesen sein muss. Prachtvolle Äste, kraftvoll leuchtende Blätter, die Wurzeln fest im Boden verankert, hatte sie jedem Gewitter standgehalten. Und nun? Die knorrige Rinde voller Spuren der Vergangenheit, die Äste schlaff zu Boden hängend. Ist es das, wovon alle immer gesprochen hatten? Ist das das Alter? Die Zeit, in der man alle Möglichkeiten der Welt hätte, aber nicht mehr die Kraft, sie auszukosten? Der Moment, ab dem man so anders ist, dass man aus dem Rahmen der Gesellschaft fällt. Ist man ab dem Moment alt, in dem einen die Technik überholt? In dem man durch fleissiges Arbeiten nicht mehr mit den Geschehnissen der Welt mitkommt? Wenn man nicht mehr effizient ist?

«Effizient», Erich murmelt, «rentabel». Wie oft hatte er diese Worte wohl schon gehört. Beinahe neidvoll wendet er den Blick der Eiche zu. Ruhig und unbeweglich steht sie da, seit Jahren, immer an derselben Stelle. Wie viele Menschenleben hat sie wohl geprägt? All die Kinder, die in ihrem Schatten spielten, die Paare, die voller Zuversicht ihre Namen in ihre Rinde ritzten. Die Vögel, die so manch prachtvolles Lied in ihrer Krone zum Besten gaben. War das genug? Wird sich eine dieser Kreaturen noch an sie erinnern? Welchen Nutzen hat sie nun noch, alt wie sie ist?

Mit einem Seufzer wendet Erich seinen Blick ab. Doch da erkennt er plötzlich etwas Neues. Die Eiche ist nicht schwächlich, wie es auf den ersten Blick scheint. Vielmehr steht sie in voller Reife. Im Kern bewahrt, strahlt sie Stärke aus. Und da entdeckt Erich noch etwas: die Freiheit. Das Vorrecht, sich nicht mehr um das Tempo kümmern zu müssen und einfach zu sein. So, wie sie ist, vollkommen unverstellt. Die Eiche ist im Begriff, das tosende Finale in Angriff zu nehmen. Das Alter ist nicht das wertlose Überbleibsel eines gelebten Lebens. Vielmehr gleicht es einem Diamanten, der durch langwierige und unnachgiebige Bearbeitung nun in seinem vollen Glanz erscheint.

Erich blinzelt zweimal. Sollte er es nochmals wagen? Seine verbliebene Kraft voll ausnützen und einfach leben? In seinem Kopf erscheint flüchtig ein alter Kindertraum. Beinahe kann er die frische Meeresbrise riechen, die ihm auf seinem Weg zum Kap der Guten Hoffnung um die Nase weht. Zögernd steht er auf und geht leicht wankend zurück zu seinem Kiosk. Ein letztes Mal wirft er einen Blick in den Laden, bevor er endgültig den Schlüssel im Schloss umdreht. Mit erfülltem Herzen und einem fest verankerten Glauben wendet sich Erich der untergehenden Sonne zu. Und geniesst mit einem Lächeln auf den Lippen die letzten Sonnenstrahlen, die kitzelnd auf seiner Nase tanzen. Mit zunehmend festen Schritten geht er die Strasse entlang, die nach Hause führt.

 

Romantische Vorstellung des Alters

 

Sie sei eigentlich schreibfaul, sagt die 16-jährige Florence Hofmann aus Nidau. Dennoch hat sie mitgemacht am Schreibwettbewerb des Schlösslis Biel. Ein bisschen wegen des Preisgeldes. Aber auch, weil sich irgendwann jede und jeder mit dem Thema Alter auseinandersetzen müsse. «Warum also nicht jetzt», dachte sich die Schülerin des Seeland Gymnasiums.

«Zuerst habe ich philosophische Gedanken zum Thema Alter aufgeschrieben», sagt sie. Die seien eher schwer gewesen. Parallel dazu entstand aber auch die Geschichte um den Kiosk. Ihre Lehrerin Sonja Muhlert konnte sie schliesslich überzeugen, die beiden Texte zusammenzufügen. «Und die Idee mit dem Vanilleeis und den heissen Beeren ist mir eines Tages einfach zugeflogen», sagt Hofmann. Meistens hat sie abends nach dem Judo-Training am Text geschrieben.

Sie habe eine eher romantische Vorstellung des Alters, findet die Gymnasiastin. «Wenn man alt ist, hat man den ganzen Tag frei, kann gemütlich herumsitzen, Freunde treffen und das Leben geniessen», sagt sie und lacht. Es verwundert nicht, dass Florence Hofmann deshalb auch keine Angst hat vor dem Alter. Sie befürchtet höchstens, einmal zu realisieren, nicht alles gemacht zu haben im Leben, was sie hätte tun wollen. Und relativiert sogleich: «Aber das kann ich ja jetzt beeinflussen.» Mit der Berufswahl tut sie sich noch etwas schwer. Es gibt vieles, was die Gymnasiastin interessiert: Naturwissenschaften, Medizin, Geologie. Vielleicht wird sie auch Lehrerin oder Journalistin. Noch bleibt Zeit, bis sie sich entscheiden muss. In zwei Jahren schliesst sie das Gymnasium ab.

Die Teilnahme am Wettbewerb sei eine gute Erfahrung gewesen. Gefallen hat ihr vor allem, einmal länger an einem Text zu arbeiten und einen Einblick ins Altersheim zu kriegen. «Ich kann mir gut vorstellen, in zwei Jahren noch einmal am Wettbewerb teilzunehmen», sagt sie. Nun freut sich Florence Hofmann erst einmal über die gewonnenen 700 Franken. Das Geld wird sie für ihre Ferien auf Mallorca gut gebrauchen können. sit

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