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Literatur

Von Fischen und Wüstentieren

Andri Bänziger glaubt, Persönlichkeitsstörungen seien bei Literaten relativ häufig anzutreffen. In seinem Debütroman «Gegen Gewicht» interessiert er sich für leicht psychotische Charaktere und das Leben mit einem behinderten Kind.

Andri Bänziger wohnt in der Nachbarschaft des Gurzelen-Stadions, als Schüler kickte er selbst im Mittelfeld, über das Schweizerische Literaturinstitut kam er nach Biel und blieb. Bild: Barbara Héritier

Clara Gauthey

Was ist krank, was ist abnormal? Wie zeigen sich Psychosen und unkonventionelles Verhalten in Alltagssituationen, wie wirken sie auf Beziehungen? Andri Bänziger interessiert sich dafür, auch bei den Charakteren seines ersten Romans. In «Gegen Gewicht» trifft die weibliche Hauptfigur unter anderem auf die undurchschaubare, psychisch auffällige Schwester ihres Freundes Ricardo.

Diese Frau namens Nathalie ruft schon mal an, um zu erklären, dieser ihr Bruder Ricardo sei tot, weil er alle ihre Medikamente auf einmal gegessen habe. Was Quatsch ist, einfach dreist gelogen. Oder sie beschimpft sie aus dem Blauen heraus als Nutte. Psychotische Phasen, in denen ihr Zimmer von Panthern oder Würmern besiedelt zu sein scheint, wechseln mit vollkommen normalen ab; offenbar war in der Vergangenheit eine recht bunte Drogenkarriere im Spiel. Nathalies düstere Unberechenbarkeit bringt Drama ins Durchschnittsleben der Protagonistin.

Und auch, wenn sie einander fremd sind – «war sie nicht ein Fisch, der in meinem Ödland verenden musste, und ich ein Wüstentier, das im Meer ertrinken würde?» – freunden sie sich miteinander an.

 

Blutgrätsche ins Sozialgefüge

Die weibliche Hauptfigur hat eine behinderte Tochter, Aliena. Und auch die ist immer wieder für eine Überraschung gut. Anders als ihre meist angepasste Mutter vollführt Aliena gewissermassen nonstop Blutgrätschen mitten hinein ins soziale und gesellschaftliche Gefüge, unwissend oder unfähig, die eigenen Bedürfnisse gegenüber Pflichten und Gesetzmässigkeiten der anderen abzugrenzen und in ihr Handeln einzubeziehen. Das kann durchaus auch mal tragisch-komisch sein, wenn sie durch eine unüberlegte Aktion das alte Auto der Mutter schrottet, weil ihr der seichte Radio-Pop nicht behagt.

Die Hauptfigur ist ein zurückgenommener und zugleich eigensinniger Charakter. Ihre Kindheit empfindet sie als eine Art Zumutung, «ein fertiges Menü für jemanden der gerne kocht, aber es anders tun würde, ganz anders, ein Elend, die Kindheit, ein Treiben in fremden Wassern (...).»

Aber der Protest, das grosse Aufbäumen, bleiben letztlich aus. Im Job als Kellnerin wird freundlich gelächelt, ohne dass dies als Höflichkeit oder freundlich gemeint wäre und bei Problemen mit dem Kind in der Schule verhält sie sich geradezu konfliktscheu. Dazwischen versucht diese Figur, eine Beziehung ohne grosse emotionale Höhen und Tiefen zu führen, aus Angst, zu viel Nähe zuzulassen. Kann das gut gehen?

 

Neues Werk in der Schublade

Der Autor, Andri Bänziger, 29 Jahre, hat schon einiges angefangen – und wieder aufgehört. Nach der Schulzeit in Wattenwil begann er in Bern ein Soziologiestudium, das er kurz darauf abbrach. Das anschliessende Jura-Studium hielt er 1,5 Jahre durch. Daneben hatte er Arbeit als Supermarkt-Logistiker für Gemüse- und Früchtelieferungen, die sich nachts abspielten. Die Doppelbelastung zwischen Nachtarbeit und Hörsaal war hoch. Es folgte ein Ausflug in die Gastronomie als Barkeeper im Mokka in Bern, dann machte Bänziger ein Praktikum in der Behindertenbetreuung und blieb in dem Bereich. Parallel begann er das Studium am Schweizerischen Literaturinstitut und – schloss es im Sommer ab. Zu diesem Zeitpunkt war sein Roman schon lange fertig. Inzwischen hat er schon etwas Neues abgeschlossen, eine «düstere Novelle», wie er sagt. Was ihn zum Inhalt seines ersten Buches bewegt hat? «Ganz einfach, mein Leben bestand zu dieser Zeit aus Literatur und ich war umgeben von Behinderten», sagt er leichthin.

Sein Romandebüt spricht von ernsten Themen, ist dabei allerdings ziemlich amüsant. Bitterböse die Szene, als die Hauptfigur mit einer Gruppe Behinderter im Papiliorama in Kerzers ist, und ein Mädchen als allererstes direkt mal einen der Schmetterlinge zwischen den Händen zerklatscht und stolz ausruft: «Erwischt!» Es fällt Bänziger schwer, einen guten Witz sausen zu lassen.

 

«Fallbeispiele wie ein Krimi»

Aber er ist kein Marketingmensch, wenn es darum geht, sich und sein Buch zu verkaufen. «Ich könnte jetzt sagen, dass Sie durch das Lesen meines Romans sexy oder sehr beliebt werden, aber das stimmt vermutlich nicht so ganz», erklärt er und grinst.

Was er selbst liest? Am liebsten Fachliteratur aus der Psychiatrie. Borderline-Syndrom, Autismus oder das Buch des französischen Psychiaters Boris Cyrulnik über die Scham. «Psychiatrische Fallbeispiele lesen sich wie ein Krimi», findet er.

Überhaupt fände man unter Autoren eine Menge Persönlichkeitsstörungen, ist er überzeugt. Vielleicht, weil die Empfindsamkeit grösser sei und damit auch das Leiden an schiefen Systemen oder Schicksalsschlägen. Die Welt tötet eben die Sanftesten und die Besten. Ausser, sie schreiben – eine der besten Therapien, die es gibt.

Info: Andri Bänziger, «Gegen 
Gewicht», Verlag die Brotsuppe, Biel, 29.90 Franken.

Andri Bänziger, «Gegen Gewicht»

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