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Literatur

Weihnachten am Boulevard des Philosophes

In seiner neu aufgelegten Chronik erinnert sich der 2010 verstorbene Georges Haldas an seine Genfer Kindheit. 
Und daran, wie Weihnachten zu einem Friedensfest wurde.

Bild: Keystone

Charles Linsmayer

1991, am Salon du livre de Genève, habe ich ihn noch gesehen, wie er am Stand des manisch-
literaturverliebten Serben Vladimir Dimitrijevic und von dessen Verlag «L’Âge d’Homme» ein spätes seiner schliesslich über 60 Bücher signierte: Georges Haldas, unübersehbar griechischer Herkunft, aber mit der Zigarette im linken Drittel des zusammengekniffenen Mundes, der schwarz gerandeten Brille mit den dicken Gläsern und dem leicht verschatteten Blick seiner dunklen Augen die ultimative Verkörperung eines Genfer Intellektuellen.

 

Grieche und Genfer

Er sei «weder ganz Grieche, noch ganz Welschschweizer» hat der am 14. August 1917 in Genf als Sohn eines Griechen und einer Neuenburgerin geborene und am 24. August 2010 in Le Mont-sur-Lausanne verstorbene Literat einmal erklärt, «meine Heimat ist die Verbindung». Was nicht nur die zwei Nationalitäten betraf, die der studierte Altphilologe als Übersetzer antiker Literatur zusammenführte, sondern sich in einem breiten Zugriff auf das ganze Dasein bezog, das er weit über das Lokale und Persönliche hinaus in all seinen Facetten und Eigenheiten schriftlich festhielt.

Zunächst als Lehrer, Buchhändler, Journalist und Verlagslektor tätig, publizierte er 1942 mit «Cantique de l’aube» den ersten von 14 Bänden mit Gedichten, mit denen er sich als «Verkünder des Wesentlichen» verstand, der den goldenen Faden des Ewigen schreibend in das Gewebe der Zeit hineinzuflechten versucht». Zur Prosa ging er erst 1963 über, als er mit «Gens qui soupirent, quartiers qui meurent» den ersten Band seiner insgesamt 38 Bände «Chroniques» publizierte, die Lokalgeschichte, Zeitgeschichte und Autobiographie zu einem grossartigen Erzählwerk verbanden.

Den bis 2006 fortgeführten Chroniken stellte Haldas zwischen 1973 und 2000 unter dem Titel «L’État de poésie» in 14 weiteren Bänden die autobiographischen «Carnets» gegenüber, die das eigene Schreiben und dessen persönliche Hintergründe auf umfassende, aber nie geschwätzige oder indiskrete Weise dokumentieren.

 

Kindheit als Ausgangspunkt

Obwohl er vor allem als Chronist seiner Heimatstadt Genf wahrgenommen wurde, war er keineswegs auf vordergründige Weise der Aktualität verpflichtet, sondern nahm ebenso intensiv die Vergangenheit in den Blick, von der her ihm das Gegenwärtige erst verständlich erschien, wie er denn auch sein eigenes Leben vor allem von seiner immer wieder neu und lebendig geschilderten Kindheit her zu ergründen suchte. Ganz besonders gilt das für «Boulevard des Philosophes» von 1966, der Chronik, die seinem Vater gewidmet ist, aber indirekt auf anschauliche Weise die eigenen frühen Jahre im Schosse der griechisch-genferischen Familie evoziert, die im Haus Nr. 7 am Boulevard des Philosophes eine Pension betrieb.

Das Buch erschien 1989 als erste Prosaveröffentlichung von Georges Haldas in deutscher Sprache und liegt nun in Bernhard Echtes Nimbus-Verlag in einer eleganten Neuausgabe wieder vor.

 

Der Mann mit der Pelerine

Die Chronik, die in Elisabeth Dütschs Übersetzung viel von der Kraft und der Wucht des französischen Originals spürbar werden lässt, führt mitten in Haldas’ Kindheitswelt an der im Titel angeführten Strasse im Genfer Quartier Plainpalais hinein, lässt uns ins Stimmengewirr am Familientisch eintauchen, konfrontiert uns von der herrischen Grossmutter über den cholerischen, mit sich selbst beschäftigten, immer wieder in fürchterliche Zornausbrüche verfallenden Vater und der ewig kränkelnden Mutter bis hin zum illegitimen Kind der im gleichen Hause wohnenden «Grossen Mamsell» mit einer ganzen Reihe einprägsamer Figuren und gibt uns auf geheimnisvolle Weise jene Diskrepanz zwischen dem verlorenen Paradies auf der griechischen Insel Kephalonia und der Genfer urbanen Alltagswirklichkeit zu spüren, die im Verhalten des Vaters wie eine ebenso nostalgische wie bedrohlich wirkende Halluzination über der Szene schwebt.

Dieser Vater, der, aus Griechenland eingereist, als Student in einer Pension an der besagten Strasse untergekommen war und eine Tochter der Wirtin geheiratet hatte, vermochte keines seiner vielen Talente zur ihrer Höhe zu entwickeln und kam, während er sein Leben als Hilfsbuchhalter fristete, nie über den Zerfall seiner Hoffnungen hinweg.

Mit seiner Gereiztheit terrorisierte er die Familie, und alle wurden in Angst und Schrecken versetzt, wenn er seine schwarze Lodenpelerine anzog und voller Wut für Stunden die Wohnung verliess. Das Schlimmste aber, an was sich der Sohn viele Jahre später noch erinnern konnte, war der Moment, wenn ihn die Mutter aufforderte, dem Vater einen Gutenachtkuss zu geben und er allen Mut zusammennehmen musste, um sich dem ebenso geliebten wie gehassten Vater, diesem «Turm widersprüchlicher Energien», zu nähern.

 

«Insel des Lichts»

An Weihnachten aber war es, als würde die Kraft des mythischen Geschehens auf den Vater übergreifen und bewirken, dass er für seine Umgebung und seine Familie nicht wiederzuerkennen war. Was schon beim Schmücken des Baums begann, das sich der Vater als ein nur ihm gestattetes Ritual vorbehielt, und was sich fortsetzte, wenn sich die Familie, Grossvater, Grossmutter, Tante, Kinder und Vater und Mutter vor dem Baum versammelten und die Mutter am Klavier «Oh lune, lune d’argent, douce lune» anstimmte, sollte dem Sohn für immer als «Insel des Lichts und des Friedens» in Erinnerung bleiben und weckte wie «ein wahres Weihnachtswunder» den Eindruck, «als ob es nie ein Problem gegeben hätte».

Jedenfalls betrachtete der Vater seine Kinder, «als wolle er den flüchtigen Augenblick und seine Verbundenheit mit ihnen festhalten» und erschien auf seinem Gesicht «ein Ausdruck des Wohlwollens, das aus der innersten Lebenskraft genährt wurde». Es war, «als ob das Beste in ihm – sein Aufschwung ins Helle, seine Begeisterungsfähigkeit – die Oberhand gewonnen hätten und er für einen Augenblick aufhörte, sich zu grämen, weil er nicht dieses oder jenes sein konnte, sondern einfach da war.» So dass auch der kleine Junge voll in die weihnachtliche Harmonie einstimmen konnte und mit Leidenschaft mitsang, was die Tante, die Leitsängerin, anstimmte.

«Und die letzten Takte vor der Kadenz sang ich mit einer Inbrunst, als wollte ich alle Kräfte dieses Abends, der nun wirklich ein Fest der menschlichen Verbundenheit war, in einem einzigen Fünklein zusammenfassen.»

Info: Georges Haldas, «Boulevard des Philosophes», eine Chronik, Deutsch von Elisabeth Dütsch, Nimbus, Kunst und Bücher AG, Wädenswil 2021, 282 Seiten, 
Fr. 38.90.

Stichwörter: Literatur, Buch, Lesen, Kultur

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