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Biel

Wenn Alltägliches aussergewöhnlich ist

Die 17. Ausgabe des Festivals du Film Français d’Helvétie ist von 13 000 Menschen besucht worden. Das ist ein Plus von 20 Prozent gegenüber der letztjährigen Ausgabe, als nicht alle Plätze besetzt werden durften. Eindrückliche Erkenntnisse, köstliche Fragen und eine universelle Botschaft. Der Rückblick auf fünf Festivaltage.

Praktisch alle Vorstellungen waren sehr gut besucht. Und auch bei den anschliessenden Podiumsdiskussionen blieben die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer sitzen. Bild: Matthias Käser
  • Dossier

Raphael Amstutz
, Mitarbeit: Natalie Rüfenacht,
Simon Dick und Sven Weber

In den fünf Tagen der 17. Ausgabe des Festivals du Film Français d’Helvétie (FFFH) ist ein Begriff immer wieder zu hören gewesen, vor allem aber war er in den Gesichtern der Menschen zu sehen: Freude.

Die eindrückliche Erkenntnis: Wir freuen uns über etwas, das seit Anbeginn des Kinos, also seit rund einem Jahrhundert, eigentlich die Normalität gewesen ist und nun seit 18 Monaten nicht mehr: Den unmaskierten Gang ins Kino, das gemeinsame Erleben eines Films in einem vollen Saal, das Sprechen über das Gesehene in Gruppen im Anschluss an die Vorstellung.

Das FFFH, das erste grössere Filmfestival seit der kürzlichen Einführung der erweiterten Zertifikatspflicht, hat es gezeigt: Das Normale und Alltägliche wird, wenn es wieder zurückkehrt, kurzzeitig zum Aussergewöhnlichen.

Die Freude und ihre Gesichter

Die Freude zeigte sich in vielerlei Gestalt: Wohl noch nie sind so viele Menschen bei den Podiumsgesprächen sitzen geblieben und noch nie wurde so rege mitgemacht. Wohl noch nie kam es, kurz vor oder kurz nach dem Film, zu so zahlreichen spontanen Gesprächen mit der Sitznachbarin, dem Sitznachbarn im Kinosaal. Und noch nie galt der Applaus nicht ausschliesslich dem Werk, den Macherinnen und Machern und den gezeigten Leistungen, sondern dem schieren Umstand, wieder einmal in einem vollen Kino sitzen zu können.

Der Applaus wurde damit gleichzeitig auch zum Merci an die Verantwortlichen des Festivals, die immer an eine Durchführung geglaubt und dafür unzählige Szenarien pfannenfertig in der Schublade hatten. Nach dem Bundesratsentscheid zur erweiterten Zertifikatspflicht zeigte sich diese Flexibilität besonders: Es blieben dem Festivalteam nur fünf Tage, um den Einlass komplett neu zu organisieren. Von einem Tag auf den anderen kamen zudem ein Drittel mehr Tickets in den Vorverkauf, weil mit der 3G-Regel alle Plätze gefüllt werden durften. Daraus ergaben sich organisatorisch einige knifflige Situationen. Davon merkte das Publikum aber nichts. Klagen drangen jedenfalls keine bis zum BT, alles scheint gut gelaufen zu sein.

Die Erleichterung des Direktors

Gut gelaufen ist es auch für den Festivaldirektor Christian Kellenberger. Er ist ein gefragter Mann, als er am Sonntagabend vom BT kontaktiert wird. So wird er unter anderem für die Hauptausgabe der «Tagesschau» von RTS (Radio Télévision Suisse francophone) interviewt. Der Gründer der Bieler Filmtage hält sich nicht zurück mit Superlativen: «Fantastisch» seien diese fünf Tage gewesen, er habe so manchen «magischen Moment» erlebt. «Nein, diese Begriffe sind nicht zu hoch gegriffen», bekräftigt er auf Nachfrage.

Die Vorbereitungen seien kaum je so komplex gewesen. Das Festival in Cannes, dort, wo das FFFH die Mehrheit der Filme holt, wurde aufgrund der Pandemie später durchgeführt, die Premieren waren umkämpfter denn je, weil es seit Anbeginn der Coronakrise einen Filmstau gibt und auch bei anderen Festivals lange unklar war, ob und in
welcher Form sie durchgeführt werden können. «Die Zeit für unsere Programmation war so kurz wie nie», so Kellenberger. Zudem können seit Coronaausbruch nicht mehr so viele Vorstellungen geplant werden, weil die Säle geputzt werden müssen und gelüftet werden muss. Kurz vor Festivalbeginn entschied dann der Bundesrat, die Zertifikatspflicht auszudehnen.

«Wir haben einige Male gezittert», erinnert sich der Direktor. «Nun wurden wir mit einer der schönsten Ausgaben überhaupt beschenkt.» Im Zentrum stehe aber das Publikum. Und da habe er vor allem diesen einen Satz immer wieder gehört: «Wir haben darauf gewartet, wieder unter fast normalen Umständen ins Kino gehen zu können.»

Beim FFFH ist es anders

Neben all den nötigen Veränderungen aufgrund der Coronakrise blieb einiges auch beim Alten: Zum Beispiel die Aufmerksamkeit. Tuschelnde Zuschauerinnen und Zuschauer, klingelnde Handys und ständiges Aufleuchten von Bildschirmen oder Ess- und Trinkgeräusche. Was in vielen Kinovorstellungen schon länger zur Tagesordnung gehört, ist beim FFFH anders. Kaum ein Gerät flackert auf, kein Geräusch unterbricht die Stille. Eine Wohltat und ein Beweis dafür, dass die Menschen beim FFFH tatsächlich aus einem Grund da sind: Der gemeinsam geteilten Leidenschaft für den Film.

Zweites Beispiel: Die Gäste. Das FFFH hat sich über die Jahre ganz offensichtlich einen Ruf in Paris und ganz Frankreich geschaffen. Das hat zwei erfreuliche Folgen: Einige Filmschaffende sind bereits das dritte, vierte oder fünfte Mal in Biel. Das Publikum kennt sie und sie kennen das Publikum. Insiderwitze werden ausgetauscht, Familiengefühle kommen auf. Zweitens gelingt es dem Festival zunehmend, die ganz grossen Namen der französischen Kinowelt nach Biel zu holen. War es im vergangenen Jahr Patrick Bruel, so reiste in diesem Jahr Nathalie Baye an. Charlotte Gainsbourg wäre auch nach Biel gefahren, war aber aus familiären Gründen verhindert und bestritt das Gespräch via Zoom-Schaltung.

Von der Leinwand ins Publikum

Vor einigen Jahren wurde noch kritisch angemerkt, dass das Festival in den Sozialen Medien so gut wie gar nicht präsent sei. Diese Kritik ist nun definitiv vom Tisch. Wer abseits der Lichtspielhäuser in Festivallaune kommen wollte, fand auf Kanälen wie Instagram, Facebook oder Twitter massenhaft Zusatzstoff, um die Momente des FFFH nochmals virtuell zu erleben oder Verpasstes nachzuholen.

Der Film und das Leben

Immer wieder hatten die Filme einen unmittelbaren Einfluss auf das Leben der Menschen; die Werke stiegen quasi von der Leinwenad hinab ins Publikum.

Charlotte Gainsbourgs Regiedebüt «Jane by Charlotte», ihre Annäherung an ihre Mutter Jane Birkin, sorgte, vor allem wegen der letzten fünf Filmminuten, in denen Gainsbourg ihrer Mutter einen sehr persönlichen Text vorliest, für einen solchen Moment. Beim Gespräch mit der per Video zugeschaltenen Gainsbourg waren in den Gesichtern einiger Fragestellender Tränen zu sehen und ein aufgewühlter Zuschauer sagte, nach diesem Porträt möchte man gleich die eigenen Eltern treffen und mit ihnen reden. Manchmal sei dies aber nicht mehr möglich, weil sie dement seien oder bereits gestorben. Er gratulierte der Filmemacherin, dass sie sich zum «richtigen Zeitpunkt» gewagt hätte.

Ein anderer solcher Moment – auf der gegensätzlichen Seite der Gefühlsskala – war das herrliche Podium zu «Le trésor du petit Nicolas». Die zahlreich anwesenden Kinder konnten dem jungen Hauptdarsteller und dem Regisseur ihre Fragen stellen. Sie taten dies erfrischend direkt und gänzlich frei von Hemmungen. Es ist immer wieder faszinierend zu beobachten, wie die jungen Kinofans komplett in eine Geschichte eintauchen können und einen Film als erweiterte Realität wahrnehmen. «Waren das deine echten Freunde im Film?», wurde etwa gefragt. Oder: «Hattest du Angst vor dem Hund?» Oder: «Habt ihr alle Schokolade selber essen dürfen?»

Weltfremd?

Zum Auftakt des Festivals wurde am Donnerstag «On est fait pour s’entendre» gezeigt. Der Titel könnte etwa mit «Wir sind geschaffen, um einander zu verstehen» übersetzt werden. Es mag naiv klingen, weltfremd gar. Trotzdem: Es ist ein Ansatz, den wir uns zu Herzen nehmen sollten – bei allen Fragestellungen, die sich uns in diesen aufgeregten Zeiten stellen.

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