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Literatur

Wer die Wahrheit verdrängt ...

Mit seinem Buch «Schiffbruch und Wahrheit» greift Andres Bruetsch das tödliche Schiffsunglück auf dem Bielersee auf. Er tut dies auf packende Weise, es bleibt aber ein bitterer Nachgeschmack.

Copyright: Matthias Käser / Bieler Tagblatt

Annelise Alder

Er sei ein «Charakterschwein», hiess es. Und ein anderer BT-Leser schrieb damals: «Solche Leute gehören hinter Gitter und haben ein Leben lang weder auf dem See noch auf der Strasse etwas verloren.»

Was war geschehen? Am Abend des 11. Juli 2010 steuerte auf dem Bielersee ein Motorboot mit grosser Geschwindigkeit auf ein Gummiboot zu. Die Insassen, ein junges Paar, versuchten sich, mit einem Sprung ins Wasser zu retten. Dabei wurde die Frau vom Motorboot erfasst und schwer verletzt. Ein Augenzeuge erkannte bei der Verunfallten einen «offenen Bauch» und ein «fehlendes Bein». Die junge Frau erlag wenig später ihren schweren Verletzungen. Der Lenker des Motorboots hatte trotz Hilferufen seine Fahrt fortgesetzt, ohne anzuhalten.

 

Über 100 Hinweise waren eingegangen

Der Täter blieb flüchtig. Auf einen Aufruf der Kantonspolizei zum gesuchten Motorboot gingen über 100 Hinweise ein. Sie machten deutlich, dass die Bevölkerung grossen Anteil am tragischen Ereignis nahm. Fieberhaft suchte die Polizei nach dem «Todeslenker» – so die Bezeichnung des Flüchtigen im «Bieler Tagblatt» vom 13. Juli 2010. Unzählige Artikel weit über die Region hinaus berichteten über die mühsame Suche nach dem angeblichen Luxusboot und seinem Lenker. Im Mittelpunkt der Berichterstattung, davon zeugt auch eine Überschrift im «Bieler Tagblatt», stand folgende Frage: «Warum stellt sich der flüchtige Bootsführer nicht?»

Die Frage beschäftigte offenbar auch den Produzenten und Filmer Andres Bruetsch. Sie steht im Mittelpunkt seines in diesem Jahr erschienen Romans mit dem Titel «Schiffbruch und Wahrheit». Das Buch greift die damaligen Ereignisse auf, ohne sie aber explizit zu benennen. Der Schweizer Filmer, der mit einem Dokumentarfilm über die ehemalige Bundesrätin Elisabeth Kopp bekannt wurde, legt erstmals ein Buch vor.

Dass der erfahrene Produzent aus dem damaligen Ereignis keinen Film, sondern einen Roman formt, hängt mit seinen negativen Erfahrungen mit der Verfilmung von Geschichten zusammen (siehe Interview). Sein Bucherstling überzeugt zwar mit einem bis zum Schluss durchgezogenen Spannungsbogen, doch lässt sich mangelnde Schreiberfahrung nicht von der Hand weisen.

 

Aus dem Rentner wird ein amtierender Regierungsrat

Weil es in «Schiffbruch und Wahrheit» um eine romanhafte Adaption einer realen Begebenheit handelt, sind Ort und Personen fiktiv. Das Geschehen spielt sich zwar an einem See ab. Auch ist von einem «geplanten Autobahnzubringer» die Rede, womit natürlich der Westast gemeint ist.

Beim tödlich Verunglückten handelt es sich aber nicht wie damals um eine Frau, sondern um einen Sänger. Der Tatverdächtige ist nicht ein Rentner, sondern amtierender Regierungsrat, der selbstredend viel auf seinen guten Ruf hält. Das ist von Andres Bruetsch dramaturgisch geschickt gelöst, erhält die zentrale Thematik des Romans, nämlich die des Täterprofils, dadurch zusätzliche Brisanz.

Auch beim realen Vorfall damals sagte eine Ärztin des Forensisch-Psychiatrischen Dienstes in Bern dem «Bieler Tagblatt», dass der Bootsfahrer sich nicht stelle, um die unangenehmen Folgen des Ereignisses zu vermeiden. Patrick, so der Name der Hauptfigur im Roman, würde bei einem Eingeständnis seiner Tat nämlich viel verlieren: Sein Ansehen als zupackende Persönlichkeit, seine politische und berufliche Zukunft als Anwalt, vermutlich auch seine Frau und seine Tochter, die sich aus Enttäuschung ob seines Verhaltens von ihm abwenden.

 

Unschöne und ungenaue sprachliche Formulierungen

So verstrickt sich Patrick, der einst jede Herausforderung selbstsicher anging, im entscheidenden Moment des Unglücks aber eine falsche Entscheidung trifft, je länger, je mehr in einem Netz aus Verdrängung und Selbstrechtfertigung. «Anfangs war es leicht, die Tat zu verdrängen», sagt er. Plötzlich aber muss er erkennen, dass er vor einem Abgrund steht und kein Weg mehr in die Normalität zurückführt.

Der Film ist Andres Bruetschs Domäne. Das ist unverkennbar, nicht nur, wenn im Buch von einer Szene «wie aus einem Buñuel-Film» die Rede ist. Sprachlich finden sich nämlich einige Allgemeinplätze sowie unschöne und ungenaue Formulierungen. Hier nur ein Beispiel: «Die anfängliche Leichtigkeit von einem halben Liter Chardonnay verwandelte sich in eine hemmungslose, tiefe Traurigkeit.» Das Seerestaurant heisst «La Veduta», was in der Malerei so viel wie reale Abbildung bedeutet. Ein allzu eindeutiger Hinweis auf den realen Ursprung der Romanhandlung. Ein gutes Lektorat hätte auch für einen besseren Lesefluss gesorgt, ohne unzählige Gedankenstriche.

Für Spannung bis zum Schluss sorgt dessen ungeachtet nicht nur der ungewisse Ausgang rund um Patricks Verdrängungsstrategie.

Bruetsch flicht noch eine zweite Handlungsebene in das Geschehen. In ihrer psychologischen Stringenz kann sie allerdings nicht mit der Haupthandlung mithalten. Es bleibt unklar, weshalb sich Vater und Tochter plötzlich entfremden. Mit unterschiedlichen politischen Ansichten und dem Erwachsenwerden des Kindes lässt sich dies jedenfalls nicht abtun.

«Schiffbruch und Wahrheit» ist ein unterhaltender Roman am Rande des Krimigenres, wäre da nicht das reale tragische Unglück, das diesem zugrunde liegt. Es liegt lediglich zehn Jahre zurück. Für Hinterbliebene des Unglückopfers dürfte die Tat noch sehr präsent sein. Auch wenn der Roman das Täterprofil fokussiert, bleibt darum ein bitterer Nachgeschmack.

Info: Andres Bruetsch, «Schiffbruch und Wahrheit», Friedrich-Reinhardt-Verlag, 406 Seiten, kartoniert, Fr. 19.80.

 

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«Ich hoffe sehr, dass der Roman nicht verletzt»

Der in Basel geborene Dokumentarfilmer und Produzent Andres Bruetsch erklärt, was ihn am damaligen Unglück interessierte und weshalb daraus kein Film, sondern ein Roman entstand.

 

Andres Bruetsch, was hat Ihr Interesse am tödlichen Bootsunglück auf dem Bielersee geweckt?

Andres Bruetsch: Mich hat dieser tödliche Unfall auf See deshalb fasziniert, weil ich selber Segler bin und weiss, dass man einen Unfall auf dem Wasser sofort bemerkt. Der Täter muss sich seines Vergehens bewusst gewesen sein. Mich hat interessiert, wie er mit der Gewissheit weiterleben konnte, eine junge Frau umgebracht zu haben und wie sein familiäres Umfeld darauf reagiert.

 

Das Thema ist also die verdrängte Wahrheit?

Wir alle verdrängen Unangenehmes und müssen mit Schuld umgehen können. Schauen wir nur den Zustand dieser Welt an. Wir wissen, dass es so nicht weitergeht. Aber wir verdrängen das, und rechtfertigen unsere Handlungen mit ökonomischen Interessen. Mit dem Buch wollte ich auch den Umgang mit Verantwortung thematisieren.

 

Es ist aber ein Kriminalroman.

Der Fall hatte deshalb einen Kriminalcharakter, weil man lange nach dem Boot und dem Täter suchte. Ich würde das Buch nicht als Kriminalroman bezeichnen. Wie in einem Film von Hitchcock interessierte mich nicht, wer die Tat begangen hat, sondern wie sich die Tat ereignet hat und wie der Täter damit umgeht.

 

Weshalb ist aus dem Stoff kein Film entstanden?

Ich hatte eine genaue Vorstellung davon, wie ich den Stoff bearbeiten wollte. Das konnte ich nur als Buch realisieren. Wenn man einen Film drehen möchte, muss das Skript durch viele Instanzen durch. Dabei wird die ursprüngliche Idee oft stark verwässert. Am Schluss ist kein Profil mehr da.

Die Tat ist noch nicht lange her. Die Hinterbliebenen leben noch. Wie glauben Sie, werden sie auf den Roman reagieren?

Das ist eine gute Frage. Ich hoffe sehr und glaube es, dass der Roman sie nicht verletzt. Ich habe mit der Figur der Lena, der Tochter des Täters, Sensibilität gegenüber den Kämpfen und der Gefühlswelt junger Frauen gezeigt. Natürlich werden mit dem Buch die damaligen Ereignisse wieder ans Tageslicht gebracht. Ich hoffe aber auch, dass ich ein Stück weit zu ihrer Verarbeitung beitragen kann.

 

Hatten Sie keine moralischen Bedenken?

Ich hatte sie anfänglich schon. Deshalb habe ich nicht klar festgelegt, wo genau sich die Tat ereignet. Ich habe die Personenkonstellation verändert. Auch das soziale Umfeld und der soziale Status des Täters sind anders. Schliesslich ist das Opfer ein Sänger und keine junge Frau. Mir ging es vielmehr um das Exemplarische dieses Falls und nicht um den Ausgang. Es geht im Grunde genommen um Fahrerflucht. Im Strassenverkehr geschieht das oft. Wir haben uns fast daran gewöhnt. Wenn sich Fahrerflucht auf einem See ereignet, dann wirkt das viel schlimmer. Mit Wasser verbinden wir Erholung und Entspannung und nicht ein furchtbares Benehmen.

Interview: Annelise Alder

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