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Ausstellung

Wie leicht und schwer die Welt

Was für ein Zufall: Im Kunsthaus Pasquart kreuzen sich die Wege von Gil Pellaton und Stéphanie Saadé.
Der leichte Zauber der Poesie und die schwere Last der Geschichte sind nur eine Etage entfernt.

Stationen der Ausstellung: Die Spuren im Balken aus einem kriegszerstörten Haus zeichnen Schulwege aus Stéphanie Saadés Kindheit nach. Bilder: zvg

Tobias Graden

Es beginnt beide Male mit Holz. Die Libanesin Stéphanie Saadé hat einen Balken längs mitten in den Raum gehängt. Mehrere Meter lang, mächtig, massiv – als wollte er die Besucherinnen davon abhalten, in den nächsten Raum zu gehen. Seltsame Spuren sind auf ihm angebracht, Linien, die urplötzlich die Richtung wechseln. «The Second Space» heisst das Werk, es ist auf den ersten Blick nicht einfach zu lesen. Hintergrundwissen ist nötig: Der Balken stammt aus dem Gerüst eines traditionellen Beiruter Hauses, das zu Beginn des libanesischen Bürgerkriegs, der von 1975 bis 1990 wütete, zerstört wurde. Saadé hat Jahrgang 1983, den ersten Teil ihrer Kindheit hat sie in der Kriegszeit verbracht. Ihr Vater hat den Balken gerettet und in seinem Haus aufbewahrt, als Quelle und stummen Zeugen einer schwierigen Zeit. Die drei Spuren stammen von der Künstlerin – es sind nachgezeichnete Schulwege aus ihrer Kindheit.

Gil Pellaton dagegen lockt mit Holz. Er hat einen langen, gebogenen Handlauf im Kunsthaus angebracht, er nimmt die Besucher sozusagen an der Hand und führt sie vom Gang in den ersten Raum seiner Ausstellung. Die Metallbeschläge, mit denen der Handlauf an der Wand montiert ist, sind nicht metallisch-grau, sondern in fahlem Weiss gehalten. Pellaton hat sie mit Bienenwachs eingestrichen und lenkt damit die Aufmerksamkeit auf jene Hilfsvorrichtung, die bei einem Werk ansonsten kaum beachtet wird. Am Ende des Handlaufs baumelt eine Uhr. Doch ihr Bracelet ist viel zu lang. Wer diese Uhr wohl trägt? Ein Riese?

 

Geflüchtete Frauen stricken ein Zuhause

Es ist ein Zufall, dass Saadé und Pellaton gleichzeitig im Pasquart ausstellen. Stefanie Gschwend war im Pasquart gerade an den Arbeiten für die Ausstellung von Saadé, als der Bieler Künstler Gil Pellaton zum Träger des Manor-Kunstpreises gewählt wurde, der ihm die Einzelausstellung ermöglichte. Es ist eine glückliche Fügung, sind so doch der leichte Zauber der Poesie und die schwere Last der Geschichte bloss eine Etage voneinander entfernt – und das mit zwei Ausstellungen, die mit ihrem verspielten Umgang mit Materialien durchaus auch gewisse Gemeinsamkeiten haben.

Mit den Spuren geht es nämlich weiter bei Stéphanie Saade. Sie hat grosse, schwere Vorhänge aufgehängt, die ebenfalls aus ihrem Elternhaus stammen. Sie sind unterschiedlich gealtert – manche sind vergilbter, andere weniger. Auch auf ihnen sind Wege eingestickt, es sind die 37 wichtigste Routen, die sie zwischen 1995 und 2001 im Libanon zurücklegte, im Zeitraum zwischen dem Anbringen der Vorhänge und dem Jahr, als sie das Haus verliess. Schon als Kind hatte die Künstlerin nicht «nur» drei verschiedene, sondern ganz viele Schulwege gehabt. Mal wurde da eine Schule wegen des Kriegs geschlossen, mal wurden die christlichen von den muslimischen Kindern getrennt – den Unwägbarkeiten des Krieges musste sich Saadé immer wieder aufs Neue anpassen. Und doch sagt sie: «Ich hatte eine glückliche Kindheit.» Aber auch: «Es war eben Krieg.»

Zum Studium ging die Künstlerin nach Paris, kehrte dann wieder nach Beirut zurück, in eine Wohnung nahe beim Hafen. Als man wegen der Coronapandemie nirgends mehr hingehen konnte, schuf sie das Werk «We’ve Been Swallowed by Our Houses» («Wir sind von unseren Häusern geschluckt worden»): Ein Baumwolltuch ist mit einer Stickerei nach traditioneller Art geschmückt. Sie zeigt die Grundrisse von Saadés Wohnung, in die ein Labyrinth eingezeichnet ist. Angefertigt haben die Stickerei Frauen aus Syrien, die im dortigen Krieg ihre Häuser verloren haben.

Wenig später verlor auch Saadé ihr Heim: Es wurde bei der gewaltigen Explosion im Beiruter Hafen im August letzten Jahres zerstört, die Künstlerin flüchtete erst in die Niederlande, nun wohnt sie in Paris.

 

Die Realität
ist auch nur ein Vorschlag

Die Reise von Gil Pellaton dagegen ist eine ins Reich der Fantasie, mehr noch: ins Fantastische. Inspiriert von Marquez’ «100 Jahre Einsamkeit», einem Schlüsselwerk des fantastischen Realismus, hat Pellaton eine Kreation geschaffen in einer Sprache, die nicht mit herkömmlichen Worten zu erzählen sei, wie der Künstler sinngemäss sagt. Er erzählt eine Geschichte – Pellaton spricht von einem Rezital –, doch diese ist sprunghaft, assoziativ, eher von Gefühlen und Bildern geleitet als von der Logik. Dementsprechend können sich die Besucher selber einen Reim drauf machen – oder auch nicht. «Hennissment» heisst seine Ausstellung, «Wiehern». Und in der Tat sehen wir alsbald ein Video mit Pferden, eines davon trägt nun die Uhr mit dem überlangen Band. Das sei aber nur ein möglicher Vorschlag, sagt Pellaton – die Realität ist auch nur relativ. Sogar das Video, das Bild, ist ein Objekt und als solches wandelbar. Projiziert auf dünnen Stoff, verändert es sich selber je nach Lichteinfall.

Von unzähligen Einfällen geleitet, könnte Pellaton die Besucherin leicht zur Verwirrung bringen. Auch bei der Arbeit an «Hennissement» schuf er kuriose Momente. Die Verkäuferin in dem Laden etwa, in dem Pellaton 20 Kilogramm Kurkuma gekauft hat, dürfte sich gefragt haben, wozu er denn so viel von dem Gewürz braucht. Noch mehr wundern könnte sie sich über das Resultat: Im Werk «Faces of Nature» sind grosse Blätter auf Aluminiumprofilen aufgespiesst, gefertigt aus Kurkuma und Knochenleim. Doch als wären es Cliffhanger in einer TV-Serie, verweist stets ein Element im einen Raum auf den nächsten, wo es dann wieder auftaucht. Die Spiegel, die wir erst als Requisit in einem scheinbar unbekümmerten Video eines sorglosen Nachmittags auf dem See sehen, tauchen als Aluminiumskulpturen wieder auf.

In der Salle Poma schliesslich finden sich 20 Meter lange Installationen, übergrosse Kleider sind darin enthalten, und was nach Stoff aussieht, entpuppt sich als Stahlkonstruktion. «Ich erlaube mir zwischendurch auch einen Spass», sagt Pellaton, der die Welt auch in der Publikation zur Ausstellung auf den Kopf stellt. Diese erklärt nämlich nicht, was im Kunsthaus zu sehen ist, sondern gibt preis, was ihn dazu inspiriert hat: Ein Gespräch, in dem das «sie» der Autorin Elise Lammer und das «ich» Pellatons zuerst zu einem «wir» wird – und dann zu Pferden, die miteinander reden.

Irgendwo am Boden der Salle Poma liegt schliesslich noch ein Spiegel, von Licht erhellt. Wer weiss: Vielleicht ist dies das Eingangstor zu einer noch einmal ganz anderen Welt.

 

Das Zuhause
bleibt eine Illusion

Auch Stéphanie Saade hat zwischen den grossen Werken kleine platziert, doch sie sind gross an Bedeutung: In einem Häufchen Pariser Erde steckt der Schlüssel ihrer Beiruter Wohnung. Ein Kompass zeigt in die falsche Richtung – und kommentiert so einen Wetterhahn, der die Form des Libanon hat und sich nach der Windrichtung dreht. Das Werk «Building a Home With Time» hat der ganzen Ausstellung den Namen gegeben: Es ist eine Holzperlenkette mit 2832 Teilen – so viele Tage waren es von Saadés Geburt bis zum Ende des Bürgerkriegs.

Hat sie selber denn mittlerweile ein «Home», also ein Zuhause, gefunden? «Nein», sagt Stéphanie Saadé», «das bleibt eine Illusion.»

Info: Ausstellungen bis 27. März, Kunsthaus Pasquart, Biel. Künstleringespräch mit Stéphanie Saadé heute Abend, 18 Uhr (französisch). Parallel zur Ausstellung zeigt Saadé im Foyer Filme von weiteren libanesischen Künstlern, diese können gratis angeschaut werden.

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