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Schauspiel

Zärtliche Prosa, kopfkissennah

Das Theater Orchester Biel Solothurn bringt Robert Walsers Roman «Der Räuber» auf die Bühne. Ein grandios gespieltes Mosaik aus Slapstick, Alltagsphilosophie, zarter Nähe und postmodernder Ironie.

Flüstern, Säuseln, Liebkosen: Günter Baumann, Natalina Muggli, Tim Mackenbrock und Jan-Philip Walter Heinzel (von links). Ilja Mess/zvg

Alice Henkes

«Edith liebt ihn!», ruft es durchs Foyer. Aus allen Ecken hallt der Ruf wieder. Ein schulmädchenhaftes Kichern antwortet hier und da. Ein nervöses Plappern. Eine kleine Aufgeregtheit, die sich bis auf den Theatervorplatz ausbreitet. Der Titel «Die Wärme sollte kälter und die Kälte wärmer sein» ist sperrig, doch die Tobs-Inszenierung nach Motiven aus Robert Walsers Roman «Der Räuber», die jetzt ihre Bieler Premiere feierte, zieht das Publikum von der ersten Geste, vom ersten Wort an tief hinein ins Geschehen und in ein Stück, aus dem, wie es mit Walsers Worten heisst, «absolut nichts gelernt werden kann». Günter Baumann gibt den Zuschauerinnen und Zuschauern diese Worte noch mit auf den Weg, bevor es in den Theatersaal hinaufgeht. Man tut gut daran, sie zu beherzigen: Wer im Theater die moralische Lehranstalt sucht, im Schauspieler den Pfadiführer und im Stück den roten Faden, der ist möglicherweise mit einem Fernsehkrimi besser bedient.

Denn der Walser, den Deborah Epstein mit dem Tobs-Ensemble auf die Bühne stellt, ist ein Stückchen köstliche Theater-Anarchie. Gerade so, wie Robert Walser selbst auf seine still verwunderte Art etwas Anarchisches anhaftete, das er dann in seine Texte voll verschnörkelter Gedankengänge und feinziselierter Sprachkunststückchen wob.

Gedankengirlanden

Doch versuchen wir wenigstens, mit dem Anfang zu beginnen. Als junger Mann war Robert Walser ein ehrlich staunender Theaterbesucher, der im Guckkasten der Schauspielbühne eine wahrhaftige Entsprechung dessen fand, was er selber träumte und fühlte. Besonderen Eindruck machte dem jugendlichen Walser eine Inszenierung von Schillers «Die Räuber» im Bieler Stadttheater. Robert Walser war so begeistert von dem Stück, dass sein Bruder Karl ihn im Räuberkostüm aquarellierte.

Etliche Jahre später griff der Dichter Walser auf das Räuber-Motiv zurück, um eine Romanfigur zu erschaffen, mit der der Autor sein Verhältnis zu Kunst und Wirklichkeit reflektierte. Walsers «Der Räuber», 1925 geschrieben, aber erst 1972 publiziert, reiht sich ein in die grossen Prosawerke der Moderne. Es ist ein Mosaik aus Erzählfetzen, Gegenwartsimpressionen, Erinnerungsstückchen, Gedankengirlanden. Ein Künstlerroman gegen alle Regeln der Erzählkunst. In der Titelfigur hat sich Robert Walser ein Alter Ego erschaffen, an dem er das Scheitern eines Künstlers an der Gesellschaft nachvollzieht. Der Räuber, das ist einer, der den Konventionen entschlüpft, der sich dem praktischen Leben entwindet und der schnöden Wirklichkeit Momente voller Poesie abluchst. So einen kann die auf Fleiss und Erfolg gepolte Gesellschaft nicht leiden.

Stummer Mitspieler

Die Tobs-Bearbeitung konzentriert sich auf die unglücklichen Frauengeschichten, die dem Räuber zu schaffen machen und die beispielhaft für das Unvermögen des Räubers stehen, so zu sein, wie man eben zu sein hat. Natalina Muggli, Atina Tabé und Barbara Grimm agieren wunderbar fein moduliert als Edith, Wanda und die Zimmerwirtin und noch manch andere, von der der Räuber nur träumen kann. Sein Begehren, die Frauen und die Welt zu erobern, bleibt unerfüllt. Der Räuber selbst tritt aufgefächert in ein vorzüglich spielendes Herrengrüppchen (Günter Baumann, Jan-Philip Walter Heinzel und Tim Mackenbrock) in Erscheinung. Und eigentlich gibt es da sogar noch einen vierten, stummen Räuber: Ein grosses Mikrofon mit Walserschem Schnurrbart.

Die Soundanlage ist das technische Herz der Inszenierung. Das Publikum trägt Kopfhörer. Auf der Bühne wird in die Mikrofone geflüstert und gesäuselt, sie werden mit Worten liebkost und umschmeichelt. Und all dies erklingt so dicht am Ohr, als sässe Walser oder die schöne Wanda gleich nebenan und man könnte ihren warmen Atem auf der Wange spüren. Der Walser-Wortreichtum, die Zärtlichkeit seiner Prosa, dringen geradewegs in den Kopf, die eigenen Gedanken. Das Bühnengeschehen rückt kopfkissennah an das eigene Staunen heran. Die Worte scheinen, fast wie beim Lesen, aus dem eigenen Kopf heraus zu klingen.

Knirschen im Novemberwald

Diese Inszenierung ist wunderbar intim und betörend. Das Ensemble agiert voller Spiellust und funkelnder Präzision. Mühelos gleiten die Akteure durch einen szenischen Reigen, in dem klug gewählte Walser-Zitate und überraschende Melodien sich verbinden. Stille Träumereien folgen auf perfekt choreografierte Slapstick-Szenen. Es gibt lautmalerische Momente, bei denen mit Knistern, Rascheln, Atmen ein vor Kälte knirschendes Novemberwäldchen in den Ohren erklingt und kleine postmoderne Spielereien, bei denen die Akteure kurz aus ihren Rollen ins vermeintlich eigentliche Ich schlüpfen, das sich freilich nur als weitere Rolle erweist. Unangestrengt und wie nebenbei entfaltet sich so ein Nachdenken über Spiel und Wirklichkeit, Wahrheit und Theater und den beständigen Versuch, vor den anderen (den Frauen, aber auch der Gesellschaft, den Kritikern) als das zu erscheinen, als das man gesehen werden möchte. Dieses raunende Philosophieren über die Tücken der Kunst und des Lebens, die Grösse des Wollens und die Kläglichkeit des Scheiterns hallt noch lange nach.

Info: Die nächste Aufführung in Biel findet am 25. Mai, in Solothurn am 21. Mai statt. www.tobs.ch.

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