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Portrait

«Zeichnen war mein Ritalin»

Weg vom Objekt, weg vom Material – so hat die in Biel und Nidau aufgewachsene Künstlerin Ernestyna Orlowska zur Performancekunst gefunden. Mit ihrem neuen Projekt schliesst sie den Kreis wieder.

«Faster than Fast Fashion» heisst das Credo hinter dem neuen Projekt von Ernestyna Orlowska.zvg/karin salathé

Simone K. Rohner
Auseinandernehmen, wieder zusammennähen, färben, zerschneiden – Ernestyna Orlowska (*1987) bringt mit ihrem Projekt «Textile Reincarnation» Kleidungsstücke heraus, die eigentlich schon vorher welche waren. Nur anders. Ob das jetzt Upcycling oder Downcycling bedeutet, liegt im Auge der betrachtenden Person. Jedes massenproduzierte Stück Kleidung wird so aber zu einem Einzelstück.
Mit zwei Jahren kommt die gebürtige Polin mit ihrer Familie in die Schweiz. Sie wächst in Biel und Nidau auf, nicht in einer  kulturaffinen Familie. Sie macht das Gymnasium und dann den gestalterischen Vorkurs in Biel. Zum Kunststudium geht sie nach Bern – und bleibt dort hängen.
Unterdessen hat sie eine kleine Familie, ist Mutter eines zweijährigen Kindes. Ihr Atelier befindet sich im Schwobhaus in Bern. Im Keller. Dort, wo es gar nicht nach alter Villa aussieht. Es reihen sich Kleidungsstücke aneinander, Farben und anderes Material lagern in offenen Regalen. Werkstattflair wohin man schaut.

Das Gedankenexperiment
Mit Kleidung beschäftigt sich die Performancekünstlerin schon länger. «Kleidung ist unsere zweite Haut und formt unsere kulturelle Identität», sagt sie. Sie schneidert die Kostüme für ihre Performance-Stücke und gestaltet das Bühnenbild oft selbst.  Auch, weil sie gerne die Kontrolle behält über die Gestaltung. Beigebracht hat sie sich das Handwerk selbst, auch mit Youtube-Tutorials. Und eine Freundin von ihr ist Schneiderin. Unterdessen gibt sie selbst Workshops zum Upcycling von Kleidung.
Ihr neues Projekt «Textile Reincarnation» ist hingegen ein wahres Kind des ersten Lockdowns. «Faster than Fast Fashion» lautet das Mantra hinter den Kleidungsstücken der Künstlerin. Die Idee dahinter war ein Gedankenexperiment – ein gescheitertes, wie sie selbst zugibt. Sie fragt: Wie sähe unsere Kleidung aus, würde sie in der Schweiz produziert, aber gleich teuer, wie in einem Billiglohnland. Damit kritisiert sie die Kleiderindustrie und gleichzeitig auch unsere Konsumgesellschaft. Gescheitert ist die Gedankenspielerei, weil Orlowska sehr viel Zeit für das Nähen und umgestalten hergibt. Auch wenn sie die Ausgangstoffe geschenkt bekommt, ist ihre eigene Arbeit immer noch viel zu teuer.

Ein Zappelkind
Dass Ernestyna Orlowska nicht einfach im Lockdown still und untätig rumsitzen konnte, wird einem schnell klar, wenn man mit ihr im Gespräch ist – die Worte sprudeln in hohem Tempo heraus aus ihr. «Heute würde man bei mir wahrscheinlich ADHS diagnostizieren», meint sie. In der Schulzeit rettete sie das Zeichnen. Akribisch genau zeichnete sie während des Unterrichts ihr Umfeld ab. So konnte sie besser auf den Stoff fokussieren. «Zeichnen war mein Ritalin.» Und übers Zeichnen kommt sie schliesslich auch zur Kunst.

Die Materialkrise
Im Bachelorstudium Fine Arts fängt sie vermehrt an Material und das Produzieren von Objekten zu hinterfragen. «Ich hatte eine Materialkrise», gibt sie zu. Zunehmend interessierte sie der soziale Aspekt und wie man Kunst erfahren kann, abseits vom blossen visuellen Erlebnis. Sie löst sich vom Material. Ihre Arbeit entwickelt sich in eine performative Richtung. Als naheliegender Schritt absolviert sie das Masterstudium in Expanded Theater. Sie bewegt sich aber damit auch weg vom verkaufbaren Objekt.
Im Schlachthaustheater Bern konnte sie bereits mehrere Projekte umsetzen. Von 2015 bis 2017 kuratierte  sie dort  zusammen mit Johanna Dähler und Daniela Ruocco die Plattform Greller Keller für experimentelle, interdisziplinäre Performances. 2018 war sie im Finale des schweizerischen Theater- und Tanz Nachwuchspreises Premio und gewann mit ihrem Projekt «Bodiy» den ersten Preis. Ihre Performances zeigte sie unter anderem am  Bone Performance Festival Berne oder am Zürcher Theaterspektakel. Sie war mehrmals bei der Cantonale Bern Jura mit dabei, aber auch im Bieler Offspace Lokal-int ist sie immer wieder zu sehen. Aktuell ist sie mit einem Workshop und Popup-Shop im Espace Libre zu Gast (siehe Infobox).

90s Revival
Sichtbare Overlocknähte – auch mal in Neonorange oder Grün. Bauchfreie Oberteile, mit Cutouts oder bloss mit einer Schnur zusammengehaltene Teile – viele ihrer Stücke zeigen Haut. Rave Kultur lässt grüssen. Da verwandelt sich ein Burberryschal im typischen Karo schon mal in eine kurze Hose, oder ein Pullover löst sich in seine Fäden auf, bis nur noch ein Figur betonendes Oberteil übrig bleibt. Eines ist der Trägerin oder dem Träger dieser Kleidung sicher: Aufmerksamkeit.
Neu ist die Idee der neuzusammengesetzten Kleidung natürlich nicht. Orlowskas Stücke weisen die für die Mode der 90er-Jahre typischen Merkmale auf. Manche erinnern an die Ästhetik in Luc Bessons «Das fünfte Element», der Film kam 1997 raus. Oder rufen Erinnerungen an Martin Margielas Kreationen in den 90ern ins Gedächtnis, die ebenfalls aus alten Stoffen neu zusammengesetzt waren. Und die Einzige, die das heute tut, ist Orlowska natürlich auch nicht. Die beiden Modedesigner Mike Eckhaus und Zoe Latta aus den USA, ebenfalls 1987 geboren, arbeiten mit derselben Ästhetik mit ihrem Label Eckhaus Latta. Und sind unglaublich erfolgreich damit.
Ihre Kreationen sind nicht für jedermann und –frau, das weiss Ernestyna Orlowska. Die 90er-Jahre-Optik entsteht dann auch nicht einfach so aus Zufall, sondern ist sehr gewollt. Denn die Künstlerin sieht Trends. Und die 90er sind seit geraumer Zeit wieder im Kommen – Spice Girls Reunion inklusive. Und auch Recycling und Upcycling sind im Trend. Vintage- und Secondhandmode ist so oder so seit Jahren gefragt, und vor allem bei jungen Kunstschaffenden (auch aus finanziellen Gründen) beliebt.



Kunstworkshop
Heute und am 1. Mai im Espace Libre, Biel, 13 bis 17 Uhr. Aus alten Stoffen werden weiche Skulpturen in allen Formen kreiert, die dann in der Stadt ausgestellt werden. Max. 10 teilnehmende Personen. Anmeldung: espace.libre.bienne@gmail.com   sro
 

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