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"Collection Lockdown"

Zum Heulen, dieses Virus

Was, wenn es ein Gegenmittel gegen Corona gibt? Dann schlägt die Natur zurück, postuliert Karim Patwa in seinem Kurzfilm «Side Effects» – und der Mensch wird zum Wolf.

Urplötzliche Fleischeslust: Isabelle Freymond ist in «Side Effects» mutiert und ändert ihre Ernährungsgewohnheiten.  zvg
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Tobias Graden

Ein Neubauquartier in Zürich. Viel Beton, aber auch einiges an Grünfläche, hier wird offenbar gewohnt. Es ist aber kein Mensch zu sehen. Vogelgezwitscher, Hundegeheul. Oder sind das etwa Wölfe? Katzen miauen, und es wird gebellt. Irgendwie seltsam.
Oh, das Miauen ist ja gar nicht echt. Ein Smartphone liegt am Boden, verbunden mit einem Lautsprecher. Es erklingt «Katzenlockruf IV», unweit von einer Schale Milch, die am Boden liegt. Hinter der Hecke kommt eine Frau hervor. Sie geht auf allen vieren. Sie beginnt die Milch auszulecken, wie eine Katze eben.
Petplay? Nein. Ein Blasrohr lugt hervor, ein Betäubungspfeil wird abgeschossen, die Frau sinkt getroffen zusammen. «Zentrale? Ein Paket zum Abholen», sagt die Schützin in ihr Sprechgerät, sie ist in einen bauschigen Schutzanzug gehüllt, «eine weibliche Katze. Hier in der Gegend scheinen vermehrt Katzen unterwegs zu sein.»
Wo sind wir denn hier gelandet? Ein Boulevardzeitungsschnipsel in der nächsten Einstellung gibt einen Hinweis:«Corona-Heilmittel: Fatale Nebenwirkung?», lautet die Schlagzeile.

Verwandelte Behandelte
So heisst denn auch der Kurzfilm des Bieler Filmemachers Karim Patwa: «Side Effects», zu deutsch «Nebenwirkungen». Es ist Patwas Corona-Dystopie einer nicht sehr fernen Zukunft. Ein Mittel gegen das Virus ist zwar gefunden, doch es wird zu rasch eingesetzt. Nicht nur das Virus mutiert – auch wer behandelt ist, verwandelt sich. Er sieht zwar noch aus wie ein Mensch, verhält sich aber wie eine Katze oder ein Hund, schlimmstenfalls wie ein Wolf, allerdings ohne dessen Scheu: Er greift Menschen an.
Die Assoziation mit Filmen wie «28 Days Later», aber auch «Shaun of the Dead» ist kein Zufall. Michael Proehl, mit dem Patwa das Drehbuch geschrieben hat, mag Splatter- und Zombiefilme. Aber Patwa geht es nicht um eine Verballhornung, wie er im Gespräch erzählt, sondern um die Frage:«Wie geht es eigentlich weiter? Mehrere Grossfirmen suchen derzeit in aller Hektik nach Mitteln gegen das Coronavirus. Womöglich wählen sie auch solche aus, die nicht gerade die besten sind. Doch was passiert, wenn die Natur zurückschlägt?»

33 Filme aus 80 Eingaben
Unter Umständen nicht etwas Gutes, lautet die Antwort des Films. Möglich wurde dieser dank der Initiative «Collection Lockdown by Swiss Filmmakers». Entstanden ist diese in der freien Filmszene. Auch die Filmschaffenden sind von der Stillegung des kulturellen Lebens der letzten Wochen betroffen, Karim Patwa sah sich mit mehreren abgesagten Projekten konfrontiert. Also verarbeiteten sie die Krise mit ihren Mitteln:Sie machten Filme. Die SRG unterstützte die Initiative, und bloss eine Woche nach dem Aufruf wählte die Jury aus über 80 Eingaben 33 Projekte aus, die sie finanzierte – darunter jenes von Karim Patwa. Die Filme sind nun auf der Website von SRFKultur zu sehen, auf Youtube und am Fernsehen, wo sie den Sendeplatz von «CH:Filmszene» einnehmen. Patwas Werk ist in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag ausgestrahlt worden.
Die Kollektion ist vielfältig ausgefallen, der Bezug zum Virus ist mal enger, mal weiter. In «Echo» von Noel Dernesch beispielsweise sinnieren zwei Grindelwalder Bergler in grandiosen Bildern der Alpen über Verzicht, den Wandel und den Tod. Nathalie Pfister erkundet in einem filmischen Essay «die Lockdown-Leere urban gestalteter Plätze» – viel Leben ist da nicht mehr im Beton. Oder es gibt Gelegenheit zur Selbstdarstellung:Thomas Haemmerli zelebriert diese aber nicht ohne Selbstironie, wenn er in «Heimschule bei Klugscheisssers» seine Überforderung im Homeschooling seiner Kinder zeigt. Bei Martin Guggisbergs «Dass niemand weiss» flüchten Angehörige des vulnerablen Bevölkerungsteils in allerlei skurriler Camouflage in den Wald, um sich ungestört umarmen zu können.

Flirt im Schutzanzug
Karim Patwa hat vergleichsweise plakative Mittel gewählt. Zur Blasrohr-Frau (gespielt von der Bielerin Isabelle Freymond) gesellt sich ein Herr Hartmann (Istvàn Scheibler), der den Mutanten mit elektronischen Mitteln nachstellt. Da knisterts kurz nicht nur um die Plasmakugel, doch hat die Überdosis «Bleiben Sie zuhause!» arge Interferenzen mit dem Kommunikationsverhalten zwischen Mann und Frau zur Folge gehabt. Die «Distance-App», die den Drei-Meter-Abstand zwischen den beiden überwacht, ist auch nicht gerade hilfreich bei der Annäherung. Wer zum Tier mutiert ist, hat es zumindest in dieser Hinsicht besser – in aller Freiheit wird da animalisch auf einem Betonturm kopuliert, eigenartigerweise allerdings bekleidet. Dass die kurze Geschichte kein gutes Ende nimmt, ist absehbar. So werden wir denn Zeuge, wie abrupt sich Ernährungsgewohnheiten verändern können und sich vor der Kulisse brutalistischer Architektur die Zivilisiertheit im Menschen unwiederbringlich verabschiedet. Das hat auch seine Komik, muss man sagen.
Karim Patwa selber ist aber nicht zum Blödeln zumute. Eher ergreift ihn derzeit der Zweifel: Das Zurückschalten im Lockdown habe uns allen doch auch gut getan. «Ich werde melancholisch, wenn ich sehe, wie nun alles so rasch wie möglich wieder aufstartet und man sogleich zurück zu den alten Verhaltensformen finden will, ohne aus der Krise viel gelernt zu haben.»
Er sieht das Virus als «Fingerzeig der Natur». Noch dienen uns die Abstandsmarkierungen, die überall am Boden kleben, als Mahnung daran.
 

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