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«Unendlicher Spass»

Zusammen liest man weniger allein

Während fünf Stunden aus einem beinahe unendlichen Buch lesen. Vergangenen Samstag wagten sich fünf Studentinnen des Schweizer Literaturinstitutes an das Ausdauerprojekt. Teil zwei folgt im Dezember.

Eingeschränkter Blick: Sowohl im Buch als auch in der Gesellschaft. Oder auch durchs Fenster auf die Bühne, Bild: Vera Urweider

Vera Urweider

9270 Seiten liegen am Samstagabend auf den beiden Bühnentischen des Literaturcafes in der Bieler Altstadt. 9270 – oder sechsmal 1545. Sechs Stühle, sechs Frauen und sechs Bücher. «Mammut-Bücher», wie sie eine der Leserinnen nennt. «Unendlicher Spass» (org. Infinite Jest) des US-Autors David Foster Wallace ist unendlich dick, unendlich dicht, unendlich komplex, und vor allem bedeutet das Lesen unendliche Arbeit. Verstehen tut man längst nicht alles.

Genau darum geht es im Seminar, geleitet von Friederike Kretzen am Schweizer Literaturinstitut. Zusammen mit den Studierenden wälzt sie sich ein Semester lang durch das Buch. Vor und rücks. Zusammen. Denn alleine gebe man wohl schnell auf. «Ich hätte mich nie an das Buch heran getraut», so eine der Studierenden «endlos zu lesen und vielleicht das meiste nicht zu verstehen, das hätte ich niemals durchgehalten». Ihre Kollegin ergänzt: «In der Gruppe ist man nicht so allein mit dem Nichtverstehen, man fühlt sich aufgehoben und kann diskutieren.» Und vielleicht bringen die Studierenden die Diskussion beim nächsten Mal gar mit auf die Bühne. Denn «das ist unglaublich interessant, was dieser Text mit uns macht, was er auslöst», so Kretzen.

Während fünf Stunden lasen die fünf Studentinnen und die Dozentin also vereinzelte Passagen aus dem Buch. Nicht von vorne bis hinten. Sondern: Lieblingspassagen aus «Unendlichem Spass». Denn nicht nur die Länge des Buches kann abschrecken, sondern auch der Aufbau der Geschichte. Es gibt schlicht keine Chronologie. «Ich brauchte selber auch mehrere Anläufe für das Buch. Irgendwann dann kam ich rein», so Dozentin Kretzen, «dann, als ich einfach mal den ersten Teil ausliess und beim zweiten Einstieg»: Denn der Anfang ist das Ende. Und dazwischen purzeln Handlungsstränge, Handlungsorte und Erzählebenen durcheinander und über 100 Seiten Fussnoten bringen den Lesenden zum andauernden Hinundherspringen.

 

Komplex und krass

Wegen der völlig auseinander genommenen Form, dem fehlenden roten Faden, sei der Leseprozess ein ganz anderer als wie man ihn kennt. Gerade anders herum. Man lasse sich nicht von der Handlung tragen, sondern «dieses Buch muss man sich zusammenlesen», sagt Kretzen. Irr. Hochkomplexe Struktur. Und dennoch total durchkomponiert. So nennt sie weitere Attribute des Buches.

Man hält sich also eher an den winzigen Elementen fest, die immer wieder auftauchen. Parallelen zeigen sich auf in verschiedenen Passagen. Und in verschiedenen Welten. So dreht sich Vieles in «Unendlicher Spass» um Sucht. Auf der einen Seite jene, die ganz unten und in den Drogen verloren sind, auf der anderen Seite jene, die sich ganz oben glauben und süchtig nach dem perfekten Tennisspiel streben. «Es ist ein radikales, hartes Buch», sagt sie. Einige der Studierenden hätten nicht vorlesen wollen. Zu krass die Sprache. Zu kaputt manche Figuren. Verlassen von sich selbst. Die Obsession, die Sucht, das Streben, sei es nach Drogen, nach Erfolg, nach grossen Gefühlen oder gar nach Suizidgedanken, tritt an die Stelle ihrer selbst. Es ist auch ein Abbild unserer Gesellschaft. Jeder für sich. Jeder rennt doch irgendetwas hinterher. Mit eingeschränktem Blick. Vernebelten Gefühlen.

 

Vielstimmig vielschichtig

Dass nun in zweimal fünf Stunden von verschiedenen Stimmen mehrere einzelne Passagen (ohnehin unzusammenhängend und sowieso achronologisch) vorgelesen werden, passt auch bestens zum Buch selber. Die Vielstimmigkeit widerspiegelt die Vielschichtigkeit. Und das laute Vorlesen gleicht dann irgendwie auch den anonymen Alkoholikern in «Unendlicher Spass», die sich auch gegenseitig ihre jeweiligen Suchtgeschichten laut erzählen. Und die anderen sitzen da und hören zu.

«Ich war etwas skeptisch, ob das fünf Stunden lang funktioniert», sagt eine der Leserinnen am Schluss. Es sei ja eine trockene Materie, keine Performance, keine szenische Lesung, kein Theater. Nur die Lesenden, die Hörenden und der Text. Eine gute Idee. Sich einlassen, nur auf das Wort. Dennoch würde es etwas mehr Spannung in der Sprachführung der Lesenden und der Körperhaltung der Wartenden vertragen. Ohne kann es bei fünf Stunden Lesung schon hie und da zu Müdigkeitsanfällen im Publikum führen. Oder war vielleicht genau das gewollt?

Hätte man dann vielleicht das Ganze gar noch um eine Stufe hochschrauben können? Anstatt in zwei Abende zu teilen, einfach ein ganzes Wochenende durch. Damit sowohl Lesende, wie auch Hörende in eine Art Trance oder Sog kämen. Obsession. Sucht. So, wie die Protagonisten selber. Unaufhörlich. Oder schlicht unendlich.

Info: Zweiter Leseabend im Literaturcafe Biel, Obergasse 11, Biel: 
7. Dezember, 17-22 Uhr.

Stichwörter: Kultur, Lesen, Buch, Studium, Literatur

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