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Literatur

Zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit

Heute wird der in Biel aufgewachsene Schriftsteller E. Y. Meyer 75 Jahre alt. Zu diesem Anlass erscheint seine Novelle «Venezianisches Zwischenspiel» in einer Neuausgabe. Darin reist der Ich-Erzähler in seine dunkelsten Ecken.

Bild: Keystone/A

Charles Linsmayer

«In übernationalen Beziehungen stehend, aus schweizerischer Landschaft, schweizerischem Lebensstoff heraus gestaltet» attestierte Elsbeth Pulver 1973 dem im Jahr zuvor erschienenen ersten Roman von E.Y.Meyer, «In Trubschachen». Wobei die schweizerische Landschaft sich auf den Landgasthof in eben jenem Trubschachen bezog, in welchem der Protagonist, ein Student, eine Arbeit über Kant schreibt und dabei, dies der Lebensstoff, eine existenzielle Verunsicherung über das Verhältnis von Wirklichkeit und Unwirklichkeit erfährt, während mit den übernationalen Beziehungen die Nähe zum literarischen Vorbild Thomas Bernhard hätte angetönt sein können, in dem Meyer erklärtermassen seinen Lehrmeister sah.

Das waren Themen und Aspekte, die sich auch in den weiteren Werken des am 11.Oktober 1946 in Liestal geborenen, aber in einer Arbeiterfamilie in Biel aufgewachsenen E.Y. Meyer, der seinen Vornamen Peter durch die beiden mittleren Buchstaben seines Familiennamens ersetzte, weiter verfolgen liessen. Er studierte Germanistik und Philosophie, war Primarlehrer in Ittigen bei Bern und lebt seit 1974, nach einem fulminanten Start als Suhrkamp-Autor, als freier Schriftsteller in Bern.

 

Der Durchbruch

1977 erschien der Roman «Die Rückfahrt», der erneut einen jungen Intellektuellen in einer Schreib- und Lebenskrise zeigte, ihn aber in der Kunst neue, fruchtbare Möglichkeiten finden liess. Die Frage nach der Wirklichkeit und dem Verhältnis zu ihr ist aber auch in diesem breit angelegten Bildungsroman wieder ein zentrales Thema. «Gewiss würde es nicht möglich sein, etwas noch einmal so, wie es gewesen ist, Wirklichkeit werden zu lassen», heisst es einmal, «da man dazu erst einmal wissen müsste, wie ein Mensch, in diesem Fall also ein Römer, der vor tausendsiebenhundert Jahren gelebt hatte, seine Wirklichkeit wirklich, und nicht so, wie wir uns das heute vorstellen, erlebt hatte.»

Am radikalsten in Frage gestellt hat Meyer dann die Wirklichkeit in seinem 1994 erschienenen Roman «Das System des Doktor Maillard oder Die Welt der Maschinen». In Anlehnung und als Variante zu Edgar Allan Poes Erzählung «Die Methode Dr.Thear & Prof. Fedders» lässt er da einen Doktoranden in eine Klinik in der Provence eintreten, die von einem gewissen Doktor Maillard nach dem «System der Beschwichtigung» betrieben wird. Ein System, das den jungen Mann in einen Zustand versetzt, in dem er Wahrheit und Unwirklichkeit nicht mehr voneinander zu unterscheiden vermag und erst allmählich ahnt, dass die seltsame Klinik für Geisteskranke nichts anderes als eine von einem Verrückten erfundene surreale Verkörperung des Bösen und Wahnhaften ist.

 

Meisterliche Erzählungen

E.Y. Meyer hat immer wieder auch bemerkenswerte kürzere Erzählungen vorgelegt, in denen das Abdriften ins Surreale und Unwirkliche erzählerisch brillant vorgeführt wird. So bereits in seinem allerersten Buch, den unheimlichen Geschichten des Bandes «Ein Reisender in Sachen Umsturz» von 1972, aber auch im Erzählband «Wintergeschichten» von 1995, der zum Teil auf für das Schweizer Radio geschriebenen «Schreckmümpfeli» basiert und Musterbeispiele für seinen schwarzen Humor enthält. So wird in «Die Rache der Pharaonen» eine Berner Touristin nach einem zufälligen «Grabdiebstahl» von einer schwarzen Spinne vergiftet und in den Wahnsinn getrieben, so setzt in «Die Rückführung» ein unvorstellbar hässliches Hollywood-Monster die Berner Reithalle in Angst und Schrecken und kommt in «Eine Mondstadt» ein Mann von einer Reise nach Hause zurück und muss konstatieren, dass eine atomare Katastrophe den Tod aller Menschen und deren Ersetzung durch offenbar strahlenresistente tentakelbewaffnete Marswesen zur Folge gehabt hat.

 

Seelische Höllenfahrt

E.Y. Meyers Werke sind praktisch alle vergriffen, sollen aber demnächst als eine Art elektronische Gesamtausgabe in rascher Folge als E-Books wieder zugänglich werden. Eine Ausnahme ist die Novelle «Venezianisches Zwischenspiel» aus dem Jahre 1997, welche die von Manfred Hiefner gegründete, in St.Gallenkappel domzilierte Edition Königstuhl anlässlich des 75.Geburstags des Autors am 11.Oktober 2021 in gedruckter Form und mit einem kundigen Nachwort von Samuel Moser neu herausbringt.

Schauplatz der Erzählung ist ein Lokal namens «Harry’s Bar» in Venedig, wo sich fünf Leute – der italienische Regisseur Giorgio, der Franzose Eric de Villiers, die tschechische Malerin Milena und ein Schweizer Schriftsteller und dessen Frau, eine rumänische Theaterausstatterin – auf Einladung des erwähnten Regisseurs treffen, um dessen Pariser Inszenierung von Macchiavellis «Mandragola» zu feiern. Obwohl in der Bar und auch in dem Haus des Dramatikers Ricardo Malino, wohin man bald einmal übersiedelt, nichts Spektakuläres geschieht, sondern endlose Gespräche über den Sadomasochisten de Sade oder den Faschisten Céline geführt werden und sich zwischen den Figuren diverse Konflikte anbahnen, steigert der Ich-Erzähler, der sich zunehmend als monomanischer Pedant entpuppt, das Geschehen in seiner Darstellung zu etwas Gewaltigem, Epochalem, zu einer «Revolte der Lebenskräfte, in der die schlimmsten Perversionen die einzigen noch gebliebenen echten Lebenserfahrungen zu sein scheinen». Was erzählt beziehungsweise phantasiert wird, ist letztlich eine Konfrontation eines exzentrischen Ich-Erzählers mit den dunkelsten Seiten in sich selbst, eine seelische Höllenfahrt zwischen Lust, Sadismus und Todesphantasien, wie sie radikaler und erschreckender kaum je beschrieben worden ist.

Jedenfalls aber ist das zentrale Thema von E.Y.Meyers Schreiben, die existenzielle Verunsicherung über das Verhältnis von Wirklichkeit und Unwirklichkeit, kaum je so drastisch und bildkräftig umgesetzt worden wie in dieser Novelle, die man auch ein Vierteljahrhundert nach ihrer Entstehung noch immer nicht ohne Beklemmung und Erschütterung lesen kann.

Info: E.Y.Meyer, «Venezianisches Zwischenspiel», Novelle. Mit einem Nachwort von Samuel Moser, Edition Königstuhl, St. Gallenkappel 2021, 160 Seiten, Fr. 26.90.

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