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Pro und Kontra

Das mildestmögliche Mittel? Oder ein Verrat an den Grundsätzen?

Der Bundesrat weitet die Zertifikatspflicht in der Schweiz aus. Ist das der richtige Weg? Zwei Redaktoren ordnen den Entscheid ein - und sind sich dabei uneins.

Der Bundesrat hat am Mittwoch die Ausweitung der Zertifikatspflicht verkündet. bild: keystone

PRO

Gerne beschreibt man die Coronapandemie mit «Wellen». Das Bild suggeriert, dass die Plage sich spätestens dann, wenn endlich die letzte «Welle» durchgerauscht ist, endgültig verzieht. Dies beschreibt aber das tatsächliche Geschehen nicht adäquat. Wenn man schon ein Bild gebrauchen wolle, sagt der indische Immunologe Satyajit Rath, dann solle man jenes eines grossflächigen Waldbrandes nehmen, der an den einen Orten gelöscht werden könne, aber im Untergrund weiterglimme und an anderen Stellen wieder aufflamme. In dieser Situation stecken wir: Derzeit brennt es wieder in der Schweiz.

Dies gilt es in der Bewertung der gestern beschlossenen und vorgeschlagenen neuen Massnahmen in erster Linie zu berücksichtigen. Die Lage in den Spitälern ist nach wie vor kritisch. Eine breite, nachhaltige Entspannung ist angesichts des schleppenden Impffortschritts und der kommenden kälteren Jahreszeit nicht abzusehen. Vielmehr müssen die Spitäler befürchten, den ganzen Winter über einer grossen Belastung ausgesetzt zu sein. Über einem Viertel der hospitalisierten Covid-Patienten muss auf der Intensivstation das Leben gerettet werden, wo sie im Durchschnitt für 15 Tage bleiben müssen. Das kostet laut Universitätsspital Basel pro Patient 100000 Franken und bindet enorme personelle Ressourcen. Die Forderung, halt eben möglichst rasch die Kapazitäten zu erhöhen, verkennt die Komplexität des Problems. Ein kurzfristiger Ausbau ist gar nicht möglich, es sei denn, man nähme deutliche Abstriche in der Qualität mit den entsprechenden Folgen für die Gesundheit in Kauf. Die Pflegefachkräfte lassen sich gar nicht so schnell ausbilden, geschweige denn auf dem ausgetrockneten Arbeitsmarkt überhaupt finden. Zudem verzeichnen die Spitäler viele Abgänge, die Rede ist von bis zu 15 Prozent des entsprechenden Pflegepersonals. Dieses ist verständlicherweise frustriert, wieder einmal an die Belastungsgrenze gehen zu müssen – fast alle Covid-Intensivpatienten hätten ihren schweren Krankheitsverlauf verhindern können, wenn sie sich geimpft hätten.
Gerne vergessen die Massnahmenkritiker auch leichtfertig, dass der Bundesrat mittlerweile jeweils die mildestmöglichen Instrumente einsetzt, und dies überdies nur temporär, solange es auch nötig ist. Es ist ein Irrtum zu meinen, die Covid-Patienten in den Intensivstationen verschwänden von selber wieder, wenn bloss alle Massnahmen aufgehoben würden. Das Gegenteil wäre der Fall, und die Massnahmen zum Schutz des Gesundheitssystems – und damit von uns allen – müssten zwangsläufig noch härter ausfallen.

Die Ausweitungen der Zertifikatspflicht und die geplanten Restriktionen für Reiserückkehrer freuen niemanden, aber sie sind nötig. Der Blick in andere westeuropäische Länder zeigt klar: Eine Lockerung ist dort möglich, wo die Impfquote sehr hoch ist und Corona damit bestmöglich eingedämmt werden konnte. Es ist beispielsweise der Gastrobranche zu wünschen, dass dies auch ihr oberster Vertreter endlich einsieht. Je mehr Menschen entschlossen bei der Bekämpfung des Waldbrandes mithelfen, desto eher können sich auch alle wieder ganz frei bewegen.

Tobias Graden, stv. Chefredaktor


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KONTRA

Ausser Frage: Die Landesregierung ist gezwungen zu handeln. Doch der Weg, den der Bundesrat nun beschreitet, ist ein Verrat an den Grundsätzen, die uns bisher durch diese Pandemie getragen haben. Bundesrat Berset sagte gestern: «Wir sind seit 18 Monaten gemeinsam in dieser nicht einfachen Situation.» Doch die Botschaft, die sich hinter seinen weiteren Worten verbarg, war,  dass dieser gemeinsame Weg nun endet.

Ab Montag ist die Zeit der Rücksichtnahme für Zertifikatsbesitzerinnen vorbei. Es gibt kaum noch Bestimmungen, die sie beachten müssen. Gleichzeitig werden alle anderen vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Es gibt einen Lockdown, der nur für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe gilt. Und zu dieser Gruppe gehören bald alle, die nicht geimpft oder genesen sind. Ab Oktober werden Tests kostenpflichtig sein - de facto ist diese Option für einen Besuch des Restaurants oder Fitnesscenters also gestrichen.

Erinnern Sie sich, als wir uns als Volk zusammengerauft und eingeschränkt haben, um die gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu schützen? Hätten wir uns da erlaubt zu fordern, diese Menschen aus dem öffentlichen Leben auszuschliessen, nur, damit wir unserem gewohnten Alltag nachgehen können? Es wäre damals der falsche Weg gewesen. Wie kann er also heute der richtige sein?

Besonders betroffen, einmal mehr muss man sagen, sind die Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Was sie in dieser Pandemie aufgegeben haben, ist besonders hoch zu werten. In einem Alter, in dem die Pflege eines breiten sozialen Netzes einen überdurchschnittlich hohen Stellenwert geniesst, bedeuteten die einschränkenden Massnahmen das grössere Opfer als in anderen Bevölkerungsschichten. Und nun sind einmal mehr die Jungen die Hauptbetroffenen. Nur 22 Prozent der 10- bis 19-Jährigen im Kanton Bern sind geimpft. Ab Montag also dürfen die meisten 17-Jähriger nicht mehr ins Fitnessstudio. Und dies, obwohl ihre Altersgruppe, trotz niedriger Impfquote, das Gesundheitssystem kaum belasten. Ein Beispiel: In der ersten Septemberwoche mussten in der Schweiz 2 Personen der Altersklasse der 10- bis 19-Jährigen hospitalisiert werden. In derselben Woche wurden 51 Personen der Altersgruppe 70-79 wegen Covid in ein Spital eingewiesen, obwohl diese Alterskategorie eine Impfquote von über 80 Prozent aufweist. Statistisch gesehen ist der ungeimpfte 17-Jährige die kleinere Gefahr für das Gesundheitssystem als der geimpfte 78-Jährige. Dieses Beispiel soll zeigen, dass ein Pauschal-Ausschluss einer Menschengruppe unmöglich in jedem Fall gerecht sein kann.

Eine persönliche Anmerkung: Ich bin geimpft. Und ich bin überzeugt, dass eine hohe Impfquote der einzige Weg aus der Krise ist. Auch wird die Ausweitung der Zertifikatspflicht den Effekt haben, dass sich mehr Menschen impfen lassen werden. Aber der Zweck heiligt nicht automatisch die Mittel.

Als die Impfbereitschaft der Bevölkerung im Sommer abnahm, wurden die Impfangebote heruntergefahren. Ein fataler Fehler. Noch mehr Angebote, noch mehr Kampagnen, das wären die Mittel zum Zweck gewesen. Und nicht ein Zertifikat, das die Gesellschaft, die in einem Solidaritätsgedanken geeint war, in zwei Klassen zu spalten.


Parzival Meister, Mitglied der publizistischen Leitung
 

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