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Kommentar

Der drohende Kontrollverlust

Der Bundesrat habe es verpasst, ein gewichtiges Signal auszusenden, dass er nicht nur der Pandemie, sondern auch der Spaltung des Landes entgegenwirken will, kommentiert BT-Redaktionsleiter Parzival Meister.

Parzival Meister, Redaktionsleiter und stv. Chefredaktor

Parzival Meister

Die Schweizer Landesregierung will keine Gefahr eingehen, zumindest nicht aus epidemiologischer Sicht. Das hat der Auftritt von Bundespräsident Guy Parmelin und Gesundheitsminister Alain Berset klar gemacht. Sie haben versucht, zu vermitteln, dass man sich von den tiefen Fallzahlen, der gesunkenen Anzahl Spitaleintritte und der zurückgegangenen Sterberate nicht blenden lassen dürfe.

Doch der Bundesrat ist kein Wissenschafts-Gremium, das sich rein auf diese Aspekte fokussieren kann. Denn die Verbreitung des Virus‘ ist nicht die einzige Gefahr, mit der sich die Schweiz konfrontiert sieht. Auch mit der Abfederung der wirtschaftlichen Folgeschäden der Epidemie ist es nicht getan. Die aktuell wohl grösste Herausforderung, der die Bundesregierung begegnen muss, ist die Spaltung der Gesellschaft.

Die Schweiz befindet sich nicht in derselben Situation wie vor einem knappen Jahr, als die damalige Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga die Bevölkerung dazu aufrief, den Kampf gegen das Virus gemeinsam zu bestreiten und damit auch eine grosse Mehrheit des Landes hinter sich wusste. Die Schweiz ist kein autoritär geführter Staat, in dem eine Regierung ihre Regeln gegen den Willen des Volkes einfach so durchsetzen kann. Die Landesregierung ist darauf angewiesen, die Bevölkerung überzeugen zu können, mit ihr ihren Plan umzusetzen. Und genau dieser Rückhalt bröckelt mehr und mehr. Anfangs waren es notorische Brandstifter, die sich lautstark in Szene setzten und damit einige Unzufriedene hinter sich scharen konnten. Doch die Coronamüdigkeit hat sich mittlerweile in der breiten Bevölkerung eingenistet und das Unverständnis über einzelne Massnahmen breitet sich aus. Offenkundig ist dies etwa im Bereich der Gastronomie, wo sich eine Mehrheit der Kantone – wenn auch eine knappe – gegen den Plan des Bundesrates stellt, die Restaurants erst in einem zweiten Schritt zu öffnen. Und diese Uneinigkeit herrscht nicht erst seit gestern: In zig Skigebieten duldeten die Kantone offene Restaurantterrassen; entgegen den Verordnungen des Bundes notabene. Insbesondere das vergangene Wochenende führte uns zudem vor Augen, dass es ohne Rückhalt in der Bevölkerung einfach nicht funktioniert. Das schöne Wetter lockte die Menschen in Scharen nach draussen, das Leben kehrte an die See- und Flussufer und in die öffentlichen Freizeitanlagen zurück, als gebe es kein Corona mehr.  In dieser Masse an Menschen die geltenden Regeln durchzusetzen, ist für die Ordnungshüter schlichtweg unmöglich.

Des drohenden Kontrollverlusts scheint sich der Bundesrat bewusst zu sein. Dass man die weiter bestehende Herausforderung nur als geeintes Land packen werde, dass wir uns ihr gemeinsam stellen müssten, das betonte der Bundespräsident an der Medienkonferenz vom Mittwoch mehrfach. Ob das ausreicht? Wäre die Regierung nur schon in der Frage der Restaurantterrassen auf die Forderungen der Kantone eingegangen, hätte sie das gewichtige Signal ausgesendet, dass sie nicht nur der Pandemie, sondern auch der Spaltung des Landes entgegenwirken will.

pmeister@bielertagblatt.ch

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