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Frauenstimmrecht

"Es ist so unfassbar ungerecht"

Die Berner Historikerin und Journalistin Nadine A. Brügger hat ein Buch zum Kampf der Frauen um Gleichberechtigung geschrieben.

Nadine A. Brügger (1989) ist Historikerin und Germanistin und arbeitet aktuell als Redaktorin bei der NZZ. «Helvetias Töchter» ist ihr erster Roman. zvg/©Tim Loosli

Interview: Raphael Amstutz

Nadine Brügger, warum braucht es Ihr Buch?
Nadine Brügger: In meiner Zeit am Gymnasium und an der Universität war die Geschlechterdebatte für mich überholt. Wir jungen Menschen hatten doch alles: gleiche Ausgangslage, gleiche Anforderungen, gleiche Möglichkeiten. Den Kampf um Gleichberechtigung, den hatten vorangehende Generationen bereits für uns ausgefochten, und dafür war ich ihnen dankbar. Aber jetzt galt es doch, vorwärts zu schauen. Erst später habe ich Schritt für Schritt erkannt, wie falsch ich lag. Ein einziges Initialereignis gab es also nicht.

Woran haben Sie das denn festgemacht?
Ich bin Journalistin. Ich habe bald bemerkt, dass viele Gesprächspartner anders auf mich reagieren als auf meine männlichen Kollegen. Unangenehm anders. Und beim Gespräch mit Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen über Löhne, Netzwerke und weibliche Vorgesetzte, später auch über Teilzeitmodelle, Elternzeit und Betreuungsformen habe ich dann begriffen, wie umfassend das Thema ist, wie das alles zusammenhängt und sich direkt auf unseren Alltag auswirkt. Die Schweiz verharrt so lange schon in patriarchalen Strukturen, dass diese von manchen heute als Normalzustand wahrgenommen werden.

Haben Sie ein Beispiel?
Denken Sie nur an das Gendersternchen. Wie das die Gemüter erhitzt! Dabei geht es einfach darum, eine Sprache zu finden, die alle meint, statt einer, die eine Mehrheit ausschliesst. Denn «mitgemeint» reicht nicht, das haben die Schweizerinnen vor 1971 auf die harte Tour lernen müssen. «Mitgemeint» gibt uns weder politische Rechte noch eine eigene Stimme. Wie wichtig Inklusion also ist, sehen wir an der Tatsache, wie lange und selbstverständlich die Schweiz die Hälfte ihrer Bevölkerung politisch ausgeschlossen hat. Und dass die Gesellschaft davor heute noch sehr gerne die Augen verschliesst. Nur jetzt, mit dem 50-Jahr-Jubiläum des Frauenstimmrechts und einer wieder erstarkenden Frauenbewegung, kann das nicht mehr totgeschwiegen werden.

Dieses Totschweigen kann mitunter ja subtil sein.
Ja. Mein Vater hat meiner Schwester und mir, seit ich denken kann, immer Bücher vorgelesen. Eines davon mochte ich besonders gerne: «Peterchens und Annelieses Mondfahrt». Jahre später, als ich selber lesen konnte, habe ich es dann wieder in die Hand genommen und gestutzt: Da stand nur «Peterchens Mondfahrt». Ich war damals, als junges Mädchen, wahnsinnig enttäuscht: Man hatte Anneliese – und damit irgendwie auch meine kleine Schwester und mich – degradiert, als zu unwichtig befunden, um im Titel zu erscheinen. Dabei erleben Peterchen und Anneliese das Abenteuer doch gemeinsam. Heute bin ich meinen Eltern wahnsinnig dankbar. Obwohl sie, nicht ganz freiwillig, ein traditionelles Familienmodell gelebt haben, haben sie uns Kindern mit genau solchen Details stets Gleichberechtigung vorgelebt.

Wollen Sie mit Ihrem Buch also sensibilisieren?
Ja! Bei der Recherche für einen Zeitungsartikel vor vielen Jahren habe ich erfahren, dass bis 1988 (!) der Mann entscheiden konnte, wo seine Frau wohnt und ob sie arbeitet. Das sind noch keine 40 Jahre her und ist einfach unglaublich. Auch merke ich immer wieder, wie wenig junge Menschen aus dieser Zeit wissen. Es ist wichtig, dass wir uns vergegenwärtigen, wo wir herkommen. Nur, wenn wir erkennen, warum die Schweiz so lange brauchte, um das Frauenstimmrecht einzuführen, können wir verstehen, warum dieses Land sich noch immer schwer darin tut, seine gesamte Bevölkerung gleichwertig zu behandeln. Ein Buch wie meines soll helfen.

Sie haben sich für acht «gewöhnliche» Frauen entschieden. Warum dieses Konzept?
Ich wollte die Fakten quasi «nebenbei» erzählen. Es sollte keine trockene Wissensvermittlung werden, ich wollte lebendige, greifbare Figuren schaffen. Obwohl die Geschichten einzelnen für das Erlangen des Frauenstimmrechts wichtigen Ereignissen zugeordnet sind, eigenständige Protagonistinnen haben und für sich stehen können, hängen sie lose zusammen.

Warum mussten es gerade acht Geschichten sein?
Das hat sich nach und nach ergeben. Ich wusste, dass der Anfang der direkten Demokratie auch der Anfang des Buches bilden soll und der Schluss in die Gegenwart gehört, weil das Frauenstimmrecht nicht das Ende des Kampfes um Gleichstellung bedeutet hat. Als Schluss hat sich der Frauenstreik angeboten, weil der so sehr nach Aufbruch schmeckt, dass klar ist: Es geht weiter! Die anderen Kapitel haben sich aus den geschichtlichen Ereignissen abgeleitet: die Weltkriege, das Dorf Unterbäch, wo 1957 die ersten Schweizer Frauen trotz dem Verbot aus Bern abgestimmt haben und natürlich das Jahr 1971 mit der Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen.

Wie können sich die Lesenden Ihr Vorgehen vorstellen?
(lacht) Es war eine Tour de force. Ich wollte ein solches Buch schon lange schreiben. Aber ich habe erst nach Beginn der Pandemie, im April 2020, tatsächlich damit angefangen. Bei einem 80-Prozent-Pensum bleiben ein freier Tag und das Wochenende. Ich war während sieben Monaten an drei Tagen pro Woche praktisch durchgängig an dem Projekt. Ich habe viel gelesen, war im Archiv, habe mit Zeitzeuginnen sprechen dürfen, wichtige Orte besucht und mir Bilder und Filme angeschaut. Sobald ich dann alle historischen Fakten und Details  beisammen hatte, fing ich an, die fiktive Geschichte durch die realen Ereignisse zu weben.

Wie schwierig ist es, für sein erstes Buch – und erst noch ein dickes mit historischem Inhalt – einen Verlag zu finden?
Der historische Inhalt, also der lange Weg zum Frauenstimmrecht, war ein klarer Vorteil, stand doch das Jubiläumsjahr 2021 an. Mein Problem: Ich war viel zu spät dran! Die Verlage, die für das Jubiläum eine Publikation planten, hatten diese bereits länger aufgegleist. Schliesslich haben mir drei Verlage eine Publikation angeboten. Katrin Sutter vom Arisverlag sagte von Anfang an und mit enormer Energie: Ich will dieses Buch! Egal, wie knapp die Zeit ist: Wir schaffen das! Das hat mich beeindruckt. Und sie behielt zum Glück recht.

Wie früh waren andere Menschen involviert?
Ich habe Mühe, Unfertiges zu teilen. Mein Umfeld wusste einfach: Nadine schreibt jetzt an ihrem «Gleichstellungsbuch» und hat darum Zeit für genau: nichts. Mein Mann ist der Einzige, dem ich detailliert von den Geschichten erzählt habe. Während des Lockdowns sind wir viel gewandert ...

Was hat Sie bei der Arbeit am meisten erstaunt und überrascht?
Ich dachte, dass auf dem langen Weg zu Frauenstimmrecht und Gleichberechtigung die Fahrbahnen klarer abgesteckt wurden. Dabei gab es von Anfang an Männer, wenn auch wenige, die vehement für das Frauenstimmrecht waren. Und bis zum Schluss eine Handvoll Frauen, die sich dagegen wehrten. Es gab Vertreter der BGB, der heutigen SVP, die sich genauso für das Frauenstimmrecht einsetzten wie die Sozialdemokraten. Hingegen war es ein SP-Nationalrat, Matthias Eggenberger, der 1965 ein Postulat einreichte, um zu prüfen, ob die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention mit Vorbehalten unterschreiben könnte, um nicht auf die Einführung des Frauenstimmrechts angewiesen zu sein.

Hat Sie die Arbeit am Buch in Sachen Frauenrechte und Gleichstellung verändert?
Ich habe gemerkt, wie wichtig es ist, breite Allianzen zu schmieden. Ob eine Person eine gleichberechtigte Gesellschaft will, hängt vor allem von ihrem Charakter, ihrem Willen zur Gerechtigkeit und nicht zuletzt vom eigenen Selbstwert ab. Nur wer sich seines eigenen Wertes für die Gesellschaft sicher ist, ist bereit, Macht zu teilen. Wer hingegen unsicher ist und fürchtet, überholt zu werden, klammert sich an Privilegien fest. Das sehen wir nicht nur bei der Gleichstellungsdebatte, sondern gerade auch bei jener zur Ehe für alle.

Was hat Sie am stärksten durch die Arbeit begleitet?
Immer wieder dieser Satz: Es ist so unfassbar ungerecht. Den Frauen ist so vieles so lange verweigert worden. Beim Wunsch nach dem Stimmrecht hiess es erst: Dafür ist es noch zu früh. Und später: Das gab es noch nie, da halten wir uns lieber ans Gewohnheitsrecht. Zuerst wird den Frauen jahrzehntelang etwas vorenthalten, und wenn der öffentliche Druck grösser wird, beruft man sich auf das Gewohnheitsrecht und legitimiert neues Unrecht mit bereits begangenem.

Die ewige Frage: Warum brauchte die Schweiz so lange, um das Frauenstimmrecht einzuführen?
Einerseits fehlen der Schweiz die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche: Weltkriege, drastische Regierungswechsel – das hatten wir nicht. Dazu kommt die direkte Demokratie, eine Errungenschaft, die gerade wegen ihres Erfolgs zur Hürde für die Frauen geworden ist.

Warum?
Erstens: Um das Frauenstimmrecht einzuführen, musste in der Schweiz die Mehrheit aller Stimmbürger – also aller Männer – davon überzeugt werden, ihre Macht zu teilen. Nicht nur eine kleine, gesetzmachende und gut gebildete Elite wie etwa in Deutschland, Frankreich oder England. Und zweitens ist in der Schweiz die gesellschaftliche Dualität historisch sehr tief verankert. Das zeigen etwa die Argumente, die bei einer Parlamentsdebatte gegen das Frauenstimmrecht angeführt wurden: 1291 hätten auf dem Rütli ja auch nur Männer gestanden. Oder: Wenn Frauen Politik betreiben, bedeutet dies das Ende der Familie, weil sie dann quasi «aus dem Haus» kommen. Dazu kommen die politische und die geografische Komponente.

Wie meinen Sie das?
Landkantone fürchteten, dass es den Städterinnen aufgrund der dortigen Infrastruktur leichter fallen würde, an eine Urne zu kommen als den Frauen auf dem Land. Die Rechte fürchtete, dass viele Frauen sozialdemokratisch wählen würden. Doch statt die eigene Politik entsprechend so anzupassen, dass sie die ganze Gesellschaft ansprach, entschied man sich lieber dafür, die Hälfte dieser Gesellschaft weiterhin auszuschliessen.

Wie bewerten Sie diese Argumente aus heutiger Sicht?
Sie sind nicht einmal mehr fadenscheinig, es ist schlicht und ergreifend lächerlich. Aber damals dürften einige frei nach dem Prinzip «Never change a winning team» immer und immer wieder ein Nein in die Urne gelegt haben, wenn es um das Frauenstimmrecht ging.

Was wünschen Sie sich von den heutigen Frauen – und was für sie?
Ich wünsche mir, dass Frauen öfter bereit sind, Raum einzunehmen, Forderungen zu stellen und aufsässig zu sein.

Und von uns Männern und für uns?
Ich wünsche mir, dass Männer sich davon immer weniger angegriffen fühlen. Für Frauen wie Männer wünsche ich mir aber vor allem die Bereitschaft, Gleichstellung als gemeinsames Ziel zu verfolgen. Denn die Gesellschaft, das sind wir alle.

Der Blick in die Zukunft: Was muss sich ändern?
Das Vielgenannte: Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, Elternzeit, damit Mutterschaft kein Karrierekiller mehr ist, Quoten, wo man sonst keine ausgewogenen Gremien hinkriegt, finanzielle Anerkennung für Care-Arbeit. Aber auch: gleiches Rentenalter und Dienstpflicht für alle.

Und wie schaffen wir es?
Wir schaffen das, wenn wir aufhören, in Lagern von «wir» und «die Andern» zu denken, und stattdessen die während der Coronakrise so viel beschworene Solidarität auch über das Maskentragen hinaus anwenden. Wenn es uns gelingt, uns als Gemeinschaft wahrzunehmen, die gemeinsame Ziele erreicht, dann lösen wir damit auch noch andere Probleme als die gesellschaftliche Ungleichheit von Frauen und Männern.

Wie erleben Sie den Kampf um die Gleichstellung in Ihrem Alltag?
Ich habe vor allem erkannt, wie fragil unsere Situation ist. Errungene Rechte, erkämpfte Gleichstellung, das haben wir nicht auf sicher. All das können wir wieder verlieren.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Viele in der Schweiz haben sich darüber echauffiert, dass 2016 mit Trump ein offensichtlicher Sexist ins Weisse Haus kam. Aber auch wir haben solchen Politikern nie Einhalt geboten. Als 1988 das neue Eherecht in Kraft trat und die Ehefrau damit ihrem Ehemann gleichberechtigt wurde, war das vor allem für einen damaligen SVP-Nationalrat eine herbe Niederlage. Er hätte es lieber gesehen, der Mann hätte weiterhin eigenmächtig darüber bestimmen können, wo seine Frau lebt, wie viel Geld sie ausgibt und ob sie ausser Hause arbeiten darf. Dieser Mann wurde gut zehn Jahre später zum Bundesrat gewählt: Es war Christoph Blocher.

Welche Beispiele sehen Sie in der Gegenwart?
Besonders dramatisch ist es bei der Abtreibung. Und zwar nicht nur in Polen, wo den Frauen das Recht, über ihren eigenen Körper zu bestimmen, praktisch genommen wurde, oder in den USA, wo im vergangenen Jahr eine Abtreibungsgegnerin ans Oberste Gericht berufen worden ist. Das sehen wir auch hier bei uns, in der Schweiz. Und erstaunlicherweise setzen sich genau jene Menschen gegen Abtreibung, religiöse Verschleierung oder ungleiche Gesetze für homosexuelle und heterosexuelle Paare ein, die normalerweise lautstark nach weniger Reglementierung, weniger Staat und mehr Selbstbestimmung schreien. Warum wohl?

Das Buch
«Helvetias Töchter» erzählt acht Frauengeschichten, wie sie sich auf dem langen Weg zum Frauenstimm- und Wahlrecht in der Schweiz zugetragen haben könnten.
1) Hélène: Die Geschichte von Hélène repräsentiert die Pionierinnen der Schweizer Frauenrechtsbewegung im 19. Jahrhundert.
2) Emerita: Emerita muss während des Ersten Weltkriegs ein zusätzliches Einkommen fürdie Familie generieren. Als der Krieg zu Ende ist, erkennt Emerita, dass sie ihren Platz nicht wieder hergeben will.
3) Luisa: Luisa erlebt die drei Tage des Schweizer Landesstreiks von 1918 als junge Frau. Sie erhofft sich viel – und wird bitter enttäuscht.
4) Véronique: Véronique sammelt 1929 im Zuge der umfangreichsten Schweizer Petition aller Zeiten Unterschriften für das Frauenstimmrecht. Sie bezahlt für ihren Einsatz einen hohen Preis.
5) Elsa: Elsa will im Zweiten Weltkrieg im Frauenhilfsdienst ihren Teil an die Verteidigung der Schweiz leisten. Doch ihr Wille, das Richtige zu tun, bringt sie schliesslich ins Gefängnis.
6) Thea: Thea kommt als junge amerikanische Journalistin in die Schweiz, um über die Frauen-Abstimmung von Unterbäch zu berichten. Sie kann nicht glauben, was Frauen in diesem Land alles nicht dürfen.
7) Inez: Inez fühlt die Rhythmen der 68er-Jahre. Sie rebelliert, läuft am Marsch auf Bern mit, pfeift die Schweizer Männer aus und feiert 1971 endlich das Ja zum Frauenstimmrecht.
8) Amara: Die Geschichte von Amara, einer jungen Frau mit Migrationshintergrund, spinnt den Frauenstimmrechtsfaden weiter und verbindet die Geschichte mit der Gegenwart.

Info: Nadine A. Brügger, «Helvetias Töchter - Kampf, Streik, Stimmrecht: Acht Frauengeschichten aus der Schweiz von 1846 bis 2019», Arisverlag, rund 30 Franken. Das Buch erscheint am 14. Juni.

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